Wilde Männer
Das Wappen mit dem Totenkopf
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Albrecht Dürer, Das Wappen mit dem Totenkopf, 1503
Kupferstich, 219 (bis 220) x 159 mm, Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg.
Dämon, Hippie, Beschützer – diese unvereinbaren Begriffe beschreiben den wilden Mann. Das bis auf Gesicht, Hände und Füße behaarte Wesen stammt aus den Legenden des Mittelalters. Mal ist er der triebgesteuerte, ungestüme Verführer junger Mädchen; mal die friedfertige Kreatur des Waldes; mal der starke, übermenschliche Beschützer von Wappen.
Dürer zeigt den wilden Mann in all seiner Komplexität in einem virtuosen Stich, der den wilden Mann in das Nürnberg der Renaissance-Zeit versetzt.
Das vorliegende Blatt des Kupferstichs Wappen mit dem Totenkopf schuf Albrecht Dürer im Jahre 1503. Heute befindet es sich in der Graphischen Sammlung der Städtischen Kunstsammlungen Nürnbergs. Das Blattmaß beträgt 219 (bis 220) x 159 mm. Der Stich ist mittig unten auf der Frontkante des Steinblocks datiert mit „1503“. Seitlich schräg auf der Steinplatte liegt ein Täfelchen mit dem Monogramm Dürers „AD“. Das Papier trägt als Wasserzeichen einen Ochsenkopf mit fünfteiliger Blume, Dreieck und zwei Querstrichen. Laut Meder ist dieses Wasserzeichen, das bei ihm die Nummer 62 trägt, ein Merkmal, welches qualitativ sehr hochwertige Drucke von Dürerstichen und Holzschnitten aus der Zeit bis 1519 hinein auszeichnet (Vgl. Meder 1932, S. 303).
Auf der Rückseite des Blattes befindet sich der ovale Stempel der Sammlung der Herzöge von Arenberg. Vor allem Herzog Ludwig Engelbert von Arenberg (1750 –1820) tat sich als großer Kunstsammler und -förderer hervor, welcher auch viele Druckgrafiken Dürers und seiner Zeitgenossen sammelte. Aus einem Verkauf aus der Sammlung Arenberg in London 1902 ist bekannt, dass dort unter anderem Blätter von Dürer verkauft wurden. Bis 1914 blieb jene zum Verkauf angebotene Sammlung geschlossen im Palais d’Arenberg in Brüssel (Vgl. Lugt 1921, Nr. L.5679.
Der Sammler Karl Diehl hatte in den 1950er Jahren begonnen, Graphiken der Dürerzeit von sehr gutem Zustand zu sammeln. Das aus der Sammlung Diehl stammende Blatt reiht sich in den allgemein qualitativ hochwertigen Zustand der Druckgrafiken der Sammlung ein. 2016 gelangte dieses Blatt zusammen mit zahlreichen weiteren durch eine Schenkung der Erben an die Graphische Sammlung der Stadt Nürnberg.
Der Kupferstich Albrecht Dürers Wappen mit dem Totenkopf zeigt mittig im Bild ein Fantasiewappen mit den typischen Bestandteilen eines Wappens: ein Schild, ein Helm mit Helmzier und eine Helmdecke. Als Schildhalter fungiert hier jedoch das ungleiche Paar eines haarigen, alten Wilden Mannes und einer jungen Dame. Diese stehen untereinander und mit dem Wappen in Interaktion. Seine Aufgabe als Schildhalter vernachlässigend, nähert sich der Wilde Mann lüstern von hinten dem Mädchen. Diese scheint seinen Avancen nicht abgeneigt, ist aber dennoch im Begriff, nach dem Wappen zu greifen. Der Totenschädel auf dem Wappenschild steht dem Paar wie ein warnendes Omen gegenüber.
Der Kupferstich weist eine sehr differenzierte Artikulation im Einsatz der graphischen Mittel auf. Die unterschiedlichen Materialien sind mit großer Akribie und Virtuosität ausgearbeitet. So kommen Linien und Striche in Inkarnat und Gewand der Frau sehr filigran und in parallelen Bögen vor und geben ihr ein graziles Aussehen und ihrem Kleid und Schmuck ein edles Erscheinen. Währenddessen nutzt der Künstler besonders im Gesicht des Mannes Kreuzschraffuren und eine breitere Strichführung, um dessen Haut alt wirken zu lassen. Ihren Höhepunkt findet die auf Naturstudien beruhende, naturalistische und detailgetreue Ausarbeitung im Stechhelm. Das glatte Metall des Helmes wird durch sehr enge, feine und geradlinige Striche erzeugt. Die Flügel der Helmzier erscheinen durch kommaartige Striche flauschig und organisch.
Der Stich weist einen sehr guten Zustand auf. Joseph Meder stuft das Nürnberger Blatt mit „b hervorragend“ ein und bemerkt zu diesem Blattzustand „Wischspuren in der l[inken] Schildnase und in der Luft zwischen dem gespannten Band und dem Flügel.“ (Meder 1932, S. 109, Nr. 98.)
Die Grate im Nürnberger Blatt sind klar erkennbar; nur die vierte Feder in der Flügelspitze des vorderen Flügels, weist eine geringere Druckintensität auf. In den Schattenpartien ist vereinzelt das Leuchten der Farbschwärze noch gut zu sehen; so beispielsweise in der Flügelinnenseite und in der Helmdecke am Hinterkopf des Helmes. Der Druckbereich der Platte ist nicht angeschnitten, sodass die Umfassungslinie rundum sichtbar ist. Der Fassettenrand ist jedoch teilweise von dieser beschnitten (siehe oben rechts) und vereinzelt schwächer gedruckt. Am rechten Rand auf Höhe des Totenschädels ist die Linie wenige Millimeter breit unterbrochen.
Das Papier ist generell in einem sehr guten Zustand und weist nur sehr marginale, teils altersbedingte Schädigungen auf. Am unteren Rand ist es leicht ausgefranst. Im Bildfeld befinden sich mehrere bräunliche Stockflecken von maximal 1,5 mm breite. Besonders präsent wird dies in der größten Röhrenfalte am Kleid der Frau, vorne an der Raffung. Zudem befindet sich eine minimale Verfärbung bzw. Papierveränderung rechts neben der rechten Augenhöhle des Schädels, an welcher das Papier leicht ausgedünnt erscheint.
Mittig in der unteren Hälfte des hochrechteckigen Stiches steht ein Stechschild, eine sogenannte Tartsche, leicht schräg auf einem Steinblock. Die Front des konkav gewölbten Schildes zeigt einen Totenkopf, oder besser ein Kranium – der Unterkiefer fehlt – mit einer auffällig großen Schädelplatte. Schoch geht davon aus, dass es sich hierbei um die Darstellung eines kindlichen Wasserkopfes handelt (Vgl. Schoch 2002, S. 107). Solch eine Zuschreibung lässt sich jedoch schwer belegen und scheint keine Erklärung im Bildinhalt zu finden. Vielmehr spielt der Künstler hier mit dem Zwei- bzw. Dreidimensionalen. So wirft der Schädel einerseits einen starken Schlagschatten unten links, und andererseits wird die konkave Wölbung der Tartsche durch Schraffierungen an den Seiten zum Schild angedeutet. Der Totenkopf wirkt wie plattgedrückt in die gebogene Fläche. Auf der rechten, oberen Schildkante steht im Profil nach links dargestellt ein Stechhelm. Die Materialität des Metalls und Details wie Nieten und Knoten sind sehr naturalistisch herausgearbeitet. An der Rückseite des Helmes ist zudem die Befestigung für einen Harnischrücken zu sehen. Diese verläuft sich jedoch im Hintergrund, da sie fast wie nahtlos in eine der zwei großen Bögen der Helmdecke übergeht. Die gezaddelte Helmdecke, welche in vegetabile Formen wie Blattzungen an den Enden übergeht, reicht in weiten, großen Bögen nach rechts. Eine weitere kleinere Kurve geht über den Scheitel des Helmes hinweg, nach links.
Dem Kamm des Stechhelmes entspringen zwei sehr naturalistische Flügelschwingen als Helmzier, welche weit in den oberen, rechten Bildraum ragen.
Auf der linken Bildhälfte stehen die zwei Schildhalter. Die junge Dame ist in ein Gewandt gekleidet, welches unter der Brust zusammengefasst ist und unten in weiten Falten fällt. Am Dekolleté befinden sich links und rechts zwei Agraffen auf dem Obergewand mit Reihern oder Schwänen, zwischen denen eine Kette gespannt ist. Eine Halskette verschwindet unter dem Ausschnitt des Unterkleides. Das Mädchen rafft den Rock mit ihrem rechten Arm, welchem sie auf Hüfthöhe hält. Mit dieser Haltung entspricht sie der Ständetradition der Tracht. Ihr Kopf ist leicht nach links geneigt, wobei ihr Blick leicht kokettierend dem Mann rechts neben ihr zugewandt ist. Mit ihrer linken Hand greift sie dezent nach dem Riemen des Wappenschildes. Auf ihren aufwendig hochgesteckten und geflochtenen Haaren liegt eine reich mit floralem Ornament verzierte Brautkrone auf. Ihr Kopf wird von hinten links von der rechten Hand des Wilden Mannes gehalten, welcher diesen mit leichtem Druck zu sich zu drücken scheint. Der Mann ist bärtig und in sein Gesicht fallen tief seine struppigen Locken. Er neigt sich nach rechts hinter der Dame vor. Daneben tauchen nur noch seine ebenfalls behaarte Schulter mit seinem linken Arm und sein rechtes Bein unten links im Bild im Bild auf. Sowohl seine Arme als auch das Bein sind ebenfalls behaart, Hände und Fuß bleiben frei vom Fellbewuchs. Mit seinem linken Arm stützt er sich auf ein oben gegabelten Stock. Über die Gabelung zieht sich der Riemen, welcher am Wappenschild befestigt zu sein scheint. Der Hintergrund der Darstellung bleibt größtenteils frei und undefiniert. Nur der Erdboden mit drei runden Steinen auf der rechten Seite verortet die Szene.
Der Stich hat eine stark linkslastige Komposition, wobei die Figuren sich nur auf der linken Bildhälfte aufhalten. Auf der rechten Bildhälfte wird der Ausgleich durch die ausladende Helmdecke des Stechhelms geschaffen. In der Mittelachse stehen der Schild und das Visier des Helmes. Die Neigung des Wappens und somit des Totenschädels wird in der Kopfhaltung der Dame wieder aufgegriffen.
Auf der linken Seite scheint die Aktion in der Interaktion der zwei Figuren stattzufinden. Bei der Betrachtung des Monogrammtäfelchens, dessen Aufhängung auf dem Steinblock liegend, ohne Grund zu sein scheint, könnte eine vorangegangene Geschichte erzählt werden: Eigentlich standen die zwei Personen als Wappenhalter links und rechts des Wappens. Das Täfelchen war vermutlich ursprünglich am Wappen befestigt. Bei der Vernachlässigung der heraldischen Aufgabe neigte sich der Schild nach links, der Helm wurde gedreht, das Schildchen ist heruntergefallen. Die sonst so strenge Bildkomposition von Wappendarstellungen ist gebrochen. Dürers Darstellung mit der ungenutzten Aufhängung der Tafel könnte jedoch auch nur ein weiteres geschicktes, kleines Detail im Bildzyklus sein, das zu Überlegungen anregt.
Im Mittelalter taucht der wilde Mann oder besser auch die wilden Leuten in den unterschiedlichsten Medien auf: Von Alltagsgegenständen bis hin zum sakralen Raum. Als fiktive Figur wird der wilde Mann das erste Mal im 10. bzw. 11. Jahrhundert in der Beowulf-Sage schriftlich erwähnt. (Vgl. Großmann 2015, S. 207.) In bildlicher Form findet er im 13. Jahrhundert seine ersten Darstellungen. (Vgl. Großmann 2015, S. 206.) Im Laufe des 14. Jahrhundert erfährt er einen regelrechten Boom, wobei er sich zunächst in der Buchmalerei weit verbreitet. (Vgl. Bernheimer 1952, S. 22; vgl. Großmann 2015, S. 207; vgl. Husband 1980, S. 2.) In jener Zeit findet er auch Eingang in die Fastnachtskultur statt; so wird er im Laufe des Mittelalters und der Frührenaissance Teil der Basler und Nürnberger Fastnacht. (Vgl. Bernheimer 1952, S. 26.) Der Krampus ist beispielsweise ein Überbleibsel des Mythos des wilden Mannes.
Über den Ursprung des Wilden Mannes liegen verschiedenste Meinungen in der Literatur vor. Zumal schon im Mittelalter Uneinigkeit herrscht ob sich die Figur mehr dem Menschen oder mehr dem Tier zuordnen lässt. (Vgl. Bernheimer 1952, S. 5-7.) Seit der Publikation Wild Man in the Middle Ages von Richard Bernheimer von 1952 setzen sich Kulturwissenschaftler intensiver mit dem Motiv des Wilden Mannes auseinander. Der Ausstellungskatalog The Wild Man. MedievalMythandSymbolism herausgegeben von Timothy Husband 1980, einer im Metropolitan Museum of Art in New York gezeigten Ausstellung, liefert einen weiteren, umfassenderen Einblick in die Thematik. Zuletzt sei der Beitrag Ulrich G. Großmanns im Ausstellungskatalog Monster. Fantastische Bildwelten zwischen Grauen und Komik, einer 2015 im Germanischen Nationalmuseum gezeigten Ausstellung, erwähnt. Sie alle messen dem Wilden Mann auch eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Gesellschaft des Mittelalters bei.
Bei all den Definitionen des Wilden Mannes zeigt sich ein paar Grundmerkmale: Er ist ein fiktives Wesen, welches ganzkörperbehaart bis auf Gesicht, Hände und Füße ist. In den Erzählungen lebt er im Wald oder in den Bergen, am Rande der Zivilisation, wo er nur schwer zu finden ist. Er ist wild, nicht gottgläubig und wird häufig auch als wahnsinnig beschrieben. Meist ist er bewaffnet mit einer Keule, manchmal sogar einem ausgerissenen Baum. In manchen Überlieferungen wird er als Riese beschrieben. Einig ist man sich über seine übermenschlichen Kräfte und seine zügellose Triebhaftigkeit. Häufig taucht er im Zusammenhang mit dem Raub einer Jungfrau auf.
Grob zusammengefasst entsteht der wilde Mann als Gegenreaktion zur stark hierarchisch geordneten, streng religiösen mittelalterlichen Welt. Eine Kreatur, die all die primären Ängste der Zeitgenossen verkörpert: Chaos, Wahn und Gottlosigkeit. (Vgl. Husband 1980, S. 3.) Sie entsteht als eine Vermischung des Religiösen und Profanen, wobei sie zunächst eine negative Konnotation als Teufel und Dämon hat. Dabei unterläuft der Wilde Mann im Laufe des Mittelalters eine Entwicklung. Während er im Hochmittelalter als eine Schreckensgestalt, als ein Dämon, ein Abbild des Bösen oder der Teufel selbst galt, erhält er im Laufe des Spätmittelalters zunehmend eine Vermenschlichung. (Vgl. Husband 1980, S. 5 u. 13; vgl. Kapitel “The Natural History of the Wild Man” in Bernheimer 1952, S. 1-20.) Diese lässt ihn einerseits als groteske, unterhaltsam satirische Gestalt erscheinen und andererseits zur moralisierenden Figur werden. Seine primären Eigenschaften Wildheit und somit Zivilisationsferne, ausgeprägte sexuelle Triebhaftigkeit, Gewalttätigkeit und Naturverbundenheit behält er bei.
Der Wilde Mann taucht im Hochmittelalter vor allem in den Illustrationen der Buchmalerei auf. Dabei scheinen die ungestümen, monströsen Kreaturen manchmal nicht viel mit den zum Teil frommen Texten zu tun zu haben. Im Stundenbuch von Taymouth wird eine Darstellung des wilden Mannes als Bestie gezeigt. Er vergreift sich gerade an einer Jungfrau die er geraubt hat. Im weiteren Verlauf der Illustrationen wird die Jungfrau gerettet von einem älteren Ritter, lässt diesen jedoch für einen jüngeren sitzen. In einem darauf folgenden Kampf um die Frau stirbt der junge Ritter und der ältere geht siegreich hervor. Der ältere Mann lässt die Frau jedoch danach alleine zurück. Die Darstellung mit dem Wilden Mann dient hier als Appell an die Tugend der jungen Frau.
Die Evolution des Wilden Mannes lässt sich in der allgemeinen Tendenz zur Auseinandersetzung der Gesellschaft mit dieser Figur erklären: Zunächst hatten die Leute Angst vor der wilden Bestie, da sie ihnen unbekannt war und im Aberglauben die Meinung bestand, sie könnte wirklich existieren. (Vgl. Bernheimer 1952, S. 9.) Nachdem der Kreatur dann ein Lebensraum und ein Verhaltensmuster in den Erzählungen gegeben wurden, konnte sie besser eingestuft werden, war jedoch immer noch unheimlich. Als dem Wesen dann mehr und mehr menschliche Züge gegeben wurden, wird sie zur Satire, und das einst angsteinflößende Monster dient als zu belächelnder Sündenbock. (Vgl. Wilckens 1994, S. 66 u. S. 75-76.) Es kommt zur emotionalen Distanzierung, und der Wilde Mann ist nichts weiter als eine Kuriosität. Nachdem im Laufe des Hochmittelalters Geschichten entstehen, die dem Wesen einen Grund für seine Wildheit geben, ihn in moralisierenden Erzählungen zeigen und somit eher andeuten, dass das Wilde in jedem Einzelnen steckt, wird es zum Gegenbild der strikten Gesellschaftsordnung und es kommt zur Bewunderung der Natürlichkeit und Ursprünglichkeit der Kreatur. (Vgl. Husband 1980, S. 13-15.)
Der Wilde Mann zeigt sich in Bild und Schrift so als ein ambivalentes Wesen, welches im Dualismus von Gut und Böse steht. Bewundert durch seine Nähe zum ursprünglichen, natürlichen Leben und als Tierbändiger, gefürchtet ob seiner brachialen, triebgesteuerten Wildheit bis hin zur Vergewaltigung und zum Kannibalismus.
In seinem einleitenden Text des Ausstellungskatalogs The Wild Man fasst Husband die Bedeutung der Figur des Wilden Mannes zusammen:
„The varied symbolic functions performed by the wild man throughout the transformations of his mythic nature reveal […] not only the changing pattern of society, but the current attitudes toward it as well.“ (Husband 1980, S. 17.)
Hierdurch lässt sich der Wandel des Wilden Mannes im Laufe des Mittelalters mit gesellschaftlichen Veränderungen in Verbindung bringen. Dürers Wilder Mann entsteht in der deutschen Frührenaissance, in einem Nürnberg, das die Zwänge des Mittelalters zu überwinden versucht und sich als weltorientierte Stadt präsentiert. Dürer selbst galt als gebildeter Mann, welcher sein humanistisches Interesse auch in Diskussionen mit Freunden, darunter allen voran Willibald Pirckheimer, teilte. (Mehr zur Beziehung Willibald Pirckheimers und Dürers unter dem Thema Der Rebell.) So zeigt sich bei Dürer ein sehr vielschichtiges Bild des Wilden Mannes.
Im Spätmittelalter tauchen vermehrt Wilde Leute im Idyll der Natur auf, wie auch der Stich des sog. Meister bxg zeigt. In einer bergigen Landschaftskulisse ist im Vordergrund eine kleine Familie wilder Leute zu sehen. Friedlich und im Einklang mit sich selbst und der Natur werden die behaarten Wesen hier spielend und sorgend mit ihren Kindern dargestellt. Im Laufe des 15. Jahrhunderts kommt es durch den Aufstieg des städtischen Bürgertums zu Veränderungen in der Gesellschaft. Neben der als verdorben geltenden Welt entsteht ein Bild der wilden Leute, welches von einer Bewunderung ihrer Originalität und Natürlichkeit zeugt (vgl. Husband 1980, S. 13.) Es kommt zur Idealisierung der wilden Kreatur. Als Wesen, das im Einklang mit der Natur lebt, wird der Wilde Mann zum Symbol erhoben (vgl. Husband 1980, S. 13.) Die Wilden Leute sind sozusagen die Hippies des Mittelalters. Ein freies, friedfertiges Volk, das auch sexuell ganz andere Freiheiten besitzt.
In der Satyrfamilie greift Albrecht Dürer diese Auslegung des wilden Mannes auf. Die Szene mit Satyr und Nymphe scheint zunächst ein mythologisches Motiv darzustellen. Jedoch ist sich die Literatur einig, dass es keine konkrete mythologische Szene als Vorlage hierfür gibt. (Vgl. Schoch 2001, S. 123.) Die Figurengruppe befindet sich in der dunklen Tiefe eines Waldes, dessen Baumstämme kein Laub zeigen. Der bärtige Satyr hat Bockbeine, ist am Unterleib behaart und spielt in leicht nach rechts gekrümmter Haltung eine Schalmei. Zu seinen Füßen liegt eine nackte Frauengestalt auf einem ausgebreiteten Fell und an einen toten Ast eines Baumes gestützt. In ihrer gebeugten Haltung hält sie behutsam den Kopf einen Säuglings, welcher in ihrem Schloss liegt und auf den ihr Blick ruht. Das Kleinkind scheint mit der erhobenen Hand das Musikspiel des Satyrs zu erwidern.
Dürer wurde bei diesem Motiv vom venezianischen Maler, Grafiker und Kunsttheoretiker Jacopo de‘ Barbari (Jacopo de Barbari lebte ca. zwischen 1440 und 1516. Über das Leben des in Venedig gelernten Kupferstechers, Malers und Edelmann ist nur sehr wenig bekannt. Um 1500 hielt er sich in Nürnberg auf und kam in Kontakt mit Albrecht Dürer. Die Beziehung der zwei Künstler war primär durch eine gegenseitige, anspornende Konkurrenz geprägt. Vgl. Hevesy (1928) 2014; Gilbert 1964; DNB.) beeinflusst. Der Kupferstich Satyrfamilie, welcher nur knapp vor Dürers Stich datiert wird, (vgl. Schoch 2001, S. 123.) ist ein Zeugnis des künstlerischen Austauschs der beiden Künstler, welche sich vermutlich ab 1500 in Nürnberg getroffen haben. Diverse Verträge und Rechnungen belegen Barbaris Aufenthalt. (Vgl. Hevesy (1928) 2014, S. 14.) Die Position des Satyrs auf der rechten Bildhälfte und seine Wendung zur Bildmitte scheint zunächst von Dürer übernommen. Gleichwohl bekommt Dürers Kreatur durch die leicht gebeugte Haltung eine weniger dominierende Rolle. Der Wechsel des Instruments von Fidel auf Schalmei ist vermutlich durch regionale Vorlieben zu erklären. Im nordalpinen Mittelalter wurde der Schalmei die Symbolhaftigkeit der Wollust zugeschrieben. Hierdurch wird die triebhafte Seite des Faun unterstrichen. Eine klare Veränderung unternimmt Dürer in der Gestaltung der weiblichen Figur im Vergleich zu Barbari, dessen Frauengestalt einen ebenfalls behaarten Unterleib zu haben scheint. Bei Dürer tritt dieses Geschlechterpendant in den Vordergrund und erscheint durch die umschließende Körperhaltung mehr in der Rolle einer fürsorglichen Mutter. Am auffälligsten ist der Wahl der räumlichen Verortung der Szene bei Dürer. Während die Kulisse bei Barbari zwar ebenfalls keine Zeichen der Zivilisation erkennen lässt, versetzt Dürer die kleine Familie in die dunklen Schatten des Waldes. Die Dürers Satyrfamilie erhält etwas Intimeres durch die Position der Figuren zueinander, in ihrer selbst und durch die Wahl des Walddickichts.
Manche Literaturmeinungen grenzen den Satyr vom Wilden Mann ab. (Vgl. Husband 1980, S. 11.) Sein physisches Erscheinungsbild ist anders. Er ist nicht ganzkörperbehaart bis auf Kopf, Hände und Füße, zumal er Hufe hat. Das weibliche Wesen in Dürers Stich ist gar nicht behaart, obwohl auch der wilden Frau ein dichtes Fell zugeschrieben wurde. Das Waldidyll der kleinen Familie bei Dürer spiegelt eher die Idee der wilden Leute wieder. Fernab von der Zivilisation leben sie laut den Legenden in Bergregionen oder in den Tiefen Schatten des Waldes. Bis auf die Schalmei, deren Stellung somit auch extraponiert erscheint, und Dürers Monogramm-Schild ist nur unberührte, fast mythische Natur zu sehen.
Während beim Meister bxg die Triebhaftigkeit nicht näher thematisiert wird, weisen bei Dürer einige Elemente auf diese Ausdeutung der wilden Leute hin. Zum einen spielt der Satyr eine Schalmei, zum anderen besitzt er ein erigiertes Geschlechtsteil. Letzteres Motiv adaptierte Dürer von Barbaris Satyr. Doch durch die gekrümmte Haltung von Dürers Wildem Mann wird dieses Merkmal weniger ein Symbol von Dominanz als dass sich die Triebhaftigkeit einfügt in die Idee der Natürlichkeit der Wilden Leute.
Der Typus der Satyrfamilie, mit dem Idyll im Wald und den Beziehungen der männlichen und weiblichen Figur zueinander, bildet eine Variation von Dürers Adam und Eva, sozusagen als paganes Pendant. Der triebhafte Satyr wird aber auch zum Gegenbild des neuen Adams, wie er in den vom humanistischen Ideal geprägten Stich der Ursünde von Dürer präsentiert wird.
Ein weiterer Ort, welcher vom Wilden Mann bevölkert wird, ist die Heraldik. Ähnlich wie Einhörner finden auch wilde Leute als einstige fantastische Monster im Laufe des Mittelalters ihren Weg in den Bilderkanon der Heraldik. Seltener kommen Wilde Männer selbst im Wappen vor. (Vgl. Großmann 2012, S. 211.)
Ein Beispiel einer solchen Darstellung ist das Wappen von Grimm und Wirsung des Graphikers Hans Weiditz (Der Maler und Zeichner für Holzschnitte Hans Weiditz der Jüngere lebte von ca. 1495 bis 1536 und ist in Freiburg im Breisgau, Straßburg und Augsburg nachweisbar. Über sein Leben ist nicht viel bekannt und es herrscht zuweilen Unstimmigkeit über seine Identität, zum Teil dadurch bedingt, dass sein Vater den gleichen Namen trägt. Teilweise wird er mit dem Meister von Petraca gleich gesetzt. Er war vermutlich Schüler bei Hans Burgkmair und schuf vorrangig Holzschnitte für Buchillustrationen. Quellen: Biografie im Online Objektkatalog des British Museum, Index Deutsche Biographie, Tilman Falk: Art. „Weiditz, Hans d. J.“, in: Stadtlexikon Augsburg (2013)) aus einem Buchdruck von 1519.
Wilde Männer tauchen als Schildhalter etwa ab dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts auf. (Vgl. Großmann 2015, S. 211.) Die Entstehung dieser heraldischen Figur ist umstritten. Vermutlich wurde der wilde Mann aufgrund seiner bekannten, übermenschlichen Stärke als Schildhalter gewählt, um somit als Beschützer des Wappens zu dienen.
Es gibt auch Bezüge zu Berg- und Waldregionen, in denen die Gestalt des wilden Mannes weit im Brauchtum verbreitet war. (Vgl. Bernheimer 1952, S. 176.)
Der wilde Mann als Schildhalter ist gewöhnlich mit einer Keule oder einem Baumstamm bewaffnet.
Martin Schongauer (Der Kupferstecher Martin Schongauer wurde vermutlich um 1440 in Colmar, im Elsass geboren und starb 1491 in Breisach am Rhein oder ebenfalls in Colmar. Der Sohn eines Augsburger Goldschmieds lehrte vermutlich zunächst in der väterlichen Werkstatt, wofür seine gute Beherrschung des Kupferstichs rühren könnte. Die früheste Erwähnung in Quellen ist die Einschreibung Schongauers an der Leipziger Universität. Das Studium brach er jedoch nach wenigen Semestern ab. Es folgten Reisejahre in den Niederlanden, wodurch sein Werk und seine Malweise stark geprägt wurden. Zeichnungen belegen, dass Dürer erheblich von Schongauer beeinflusst wurde. Schongauer zählt in seiner Zeit neben Dürer als herausragender Beherrscher der Kupferstichtechnik. Auch hierin wird die Prägung Schongauers auf Dürer gesehen. Quellen.: NDB 23 (2007); ADB 34 (1892)) zeigte das Thema „Wilder Mann als Wappenhalter“ in einem Kupferstich aus den Jahren ca. 1480 bis 1490.
In Dürers Oeuvre tauchen auch häufiger wilde Männer als Schildhalter auf. Bereits im Portrait des Oswolt Krel von 1499 zeigen die sogenannten Sylvan Männer die Thematik des wilden Mannes als Schildhalter. Mit Keulen bewaffnet dienen sie als Verteidiger des Wappens. Der Wilde Mann ist hier nur noch ein Klischee in seiner Funktion als Wappenhalter. Hier werden jedoch auch reale Wappen gehalten: die von Oswolt Krel und seiner Frau Agathe von Esendorf. Krel selbst lässt sich hier auch in einer der wilden Männer nicht so unähnlichen Manier darstellen. Auch er scheint etwas Wilderes für einen Edelmann zu haben, mit dem Fellkragen und der Verortung der Baumlandschaft im Hintergrund. Er will somit auch Stärke repräsentieren. Seine Aufrechte Haltung im Verhältnis zu den flankierenden Sylvan Männern gibt ihm jedoch mehr Überlegenheit. Er besitzt die Stärke der Wilden Männer und den Verstand eines gebildeten Mannes.
Dürers Stich im Umfeld seiner Zeit
Wie in Kapitel 4 erläutert entsteht der Wilde Mann im Laufe des Mittelalters und entwickelt sich hin zum Ende des Mittelalters. Als Dürer den Kupferstich Wappen mit dem Totenkopf schafft befindet sich Nürnberg allmählich in der Renaissance. Die sehr vielschichtige Figur von Dürers Wilden Mann hier wirft viele Überlegungen auf. Um sich dieser Figur zu nähern, muss das Umfeld dieser genauer definiert werden.
Bei der genauen Betrachtung des Stiches fiel besonders die feine Ausarbeitung und Detailtreue der unterschiedlichen Stofflichkeiten auf. Eine Reihe von Vorbereitungen geht der Umsetzung voraus, wie diverse Naturstudien belegen. Diese zeugen von Dürers Beschäftigung mit seiner Zeit und seinem Umfeld. So lassen sich einige kulturgeschichtliche Bezüge zur Stadt Nürnberg herstellen.
Vom Stechhelm zeichnete Dürer eine detaillierte Studie, welche diesen in verschieden Ansichten zeigt. Solche Helme wurden vor allem von den Patrizierfamilien der Stadt Nürnberg um 1500 zum Turnier, dem sogenannten Gesellenstechen, auf dem Hauptmarkt verwendet (vgl. Schoch 2002, S. 107). Auch die Tartsche wurde bei solchen Turnieren verwendet.
Bereits in früheren Arbeiten verwendet Dürer eine Ansicht des Helms, z. B. beim Löwenwappen mit dem Hahn. Auch hierbei handelt es sich um ein Fantasiewappen, welches nicht für einen spezifischen Auftraggeber entworfen wurde.
Indizien zum Gewand der Dame liefert eine Kostüm-Studie, welche aus einer Reihe von Zeichnungen Dürers stammt, die verschiedene Nürnberger Personen zeigen. Dürer selbst gibt hier die Überschrift, dass es sich um das Kleid einer Jungfrau zum Tanz in Nürnberg handelt. Das Kleid wurde fast vollständig im Kupferstich übernommen, von der Raffung bis hin zum Faltenwurf des Saumes. Auch die Haltung, Kopfneigung und Frisur der Nürnbergerin dienten als Vorbild für den Stich. Ein weiteres Indiz, welches gerade die junge Frau in das Milieu des Nürnbergs um 1500 versetzt, ist ihre Kopfbedeckung: eine Brautkrone.
Im Vergleich mit einem Holzschnitt aus dem Trachtenbuch von Hans Weigel von 1577 fallen die Ähnlichkeiten auf. Das Trachtenbuch zeigt die unterschiedlichen Stände und Kleiderordnungen diverser Städte im Laufe des Spätmittelalters und der Renaissance. Der hier gezeigte Holzschnitt zeigt eine Patriziertochter im Hochzeitsgewand im Nürnberg des frühen 16. Jahrhunderts. Die reichverzierte Brautkrone, welche Dürer zeigt besitzt dieselbe Form. Zudem trägt die Dame ebenfalls die seitlich gedrehten Zöpfe. Auch wenn Weigels Buch nach Dürers Stich kam, so zeigt dieses doch typische und extreme Ausprägung der unterschiedlichen Trachten. Während die Krone im Dürer Blatt sehr nach der einer Patrizierbraut aussieht, hat das Gewand gar nichts von der reichverzierten Tracht in Weigels Ständebuch.
Dürer kombiniert im Kupferstich die Brautkrone der Patriziertracht, welche auf eine strikte, in der Tradition verankerte Kleiderordnung und Sittenkonvention hinweist mit einem Tanzkleid. Sowohl die Krone als auch das Kleid identifizieren die Dame als eine Nürnbergerin aus besserem Hause. Die junge Frau stammt vermutlich aus der höheren Bürgerschicht. Ähnlich wie der Stechhelm und die Tartsche, welche beim Gesellenstechen verwendet wurden, weisen die Elemente auf eine im Bürgertum verankerte Tradition hin. Großmann gibt zudem den Hinweis, dass wilde Männer als Schildhalter vor allem in Wappendarstellung von aus dem Bürgertum aufgestiegenem Niederadel häufig vorkommen (vgl. Großmann 2015, S. 211).
Im Wappen mit dem Totenkopf präsentiert sich ein komplexes Bild des Wilden Mannes. Seine Zuordnung ist in der Literatur viel diskutiert, und zeigt mehrere Facetten des Wilden Mannes auf. Das Blatt wird auch von mehreren Literaturmeinungen als eine der meisterhaftesten Arbeiten Dürers angesehen, nicht nur in der Technik sondern auch im Motiv. Es gibt keinen Auftraggeber für das Wappen, und es lässt sich somit auch keiner Person zuordnen. Es handelt sich um ein Fantasiewappen, in dem sich der Künstler die Freiheit nahm, teilweise gegen die heraldischen Richtlinien und Darstellungstraditionen zu arbeiten.
Die Darstellung des Schildhalters ist in Dürers Stich untypisch. Der Wilde Mann hat seine Aufgabe vernachlässigt und nähert sich lüstern der jungen Frau. In abstrahierter Form ist die sonst typische Keule nun die Astgabel, auf welchem das Wappen mittels des Lederriemens gestützt wird. Doch hier fungiert der Wilde Mann kaum noch als bloßer Wappenhalter, ganz im Gegensatz zu den nur aufs Klischee reduzierten Wilden Männern in den Außenflügeln des Portrait Oswolt Krels. Der Wilde Mann im Blatt von 1503 zeigt sich nicht in gekrümmter Haltung. Der Großteil seines Körpers wird jedoch hinter der jungen Frau verborgen.
Die Jungfrau mit Brautkrone wirft in Kombination mit dem Wilden Mann, aber auch mit dem Totenkopf im Wappen mehrere Deutungsmöglichkeiten auf. Mit dem Thema des ungleichen Paares aber auch der gewaltsamen Näherung eines Mannes gegenüber einer jungen Frau beschäftigte sich Dürer in einigen Arbeiten. Darunter befindet sich der Kupferstich des Gewalttätigen, welcher bereits vor dem Wappenschild entstand. Im auch unter dem Namen „Tod und Mädchen“ bekannten Stich sind die Rollen klar aufgeteilt: Der wahnsinnig und wild wirkende Mann vergreift sich an der Frau, welche sich noch zu wehren versucht. Im Blatt von 1503 ist die Dame den Avancen des wilden Mannes nicht völlig abgeneigt. Der Wilde Mann ist hier der zwar der Verführer der jungen Frau – mit leichtem Nachhelfen drückt er sie zu sich heran, sie zeigt jedoch keine Gegenwehr. Es wirkt viel mehr, als würde sie ihm ihren nackten Hals anbieten. Auch ihr Blick hat etwas Kokettierendes. Schoch will darin, dass sie nach dem Riemen des Wappenschildes greift, erkennen, dass ihr Blick eher dem Wappen als dem Wilden Mann gewidmet ist (vgl. Schoch 2002, S. 105). Dies würde die Frau eher zur Verführerin machen, die versucht, den Wilden Mann mit ihren keuschen Reizen als Jungfrau abzulenken, um das Wappen schlussendlich für sich selbst zu behalten.
Die Thematik Tod und Mädchen zeigt sich ferner im gleichnamigen Gemälde Hans Baldung Griens von 1517. Der Tod packt die junge Frau am Schopf und weist auf einen Abgrund vor ihr. Die Rollenverteilung ist durch die Ausgestaltung des verwesten Tod als Leichnams und das um Gnade bittende Mädchen klar aufgeteilt. Solche Darstellungen hatten den Grundgedanken, dass es in der frommen Weltordnung nichts Schlimmeres gab als den Tod. Noch schlimmer aber den unbußfertigen, plötzlichen Tod. Zugleich soll die Darstellung vom Tod eines jungen Mädchens aber auch daran erinnern, dass der Tod jeden treffen kann. Gilmore-House sieht in Dürers Wappen mit dem Totenkopf den Wilden Mann als eine solche Personifikation des Todes (vgl. Gilmore-House 1980, S. 195). Das Bild dient damit der Ermahnung an die junge Frau vor außerehelicher Triebhaftigkeit und des zeigt zudem, dass vor dem Tod jeder gleich ist.
Gilmore-House weist zudem darauf hin, dass der Wilde Mann in der Brautkultur noch eine weitere Bedeutung hat, wie bereits Bernheimer festhielt (vgl. Gilmore-House 1980, S. 195; vgl. Bernheimer 1952, S. 167-168): So war es im deutschsprachigem Alpenraum um 1500 üblich, dass sich Junggesellen als Wilde Männer verkleideten, um dem Brautpaar Streiche zu spielen und satirische Anekdoten aus dem Junggesellenleben des Bräutigams erzählten (vgl. Bernheimer 1952, S. 167-168). Zudem sollten die Wilden Männer Dämonen austreiben, um somit dem zukünftigem Ehepaar eine sorglose ehe bereiten (vgl. Bernheimer 1952, S. 167).
Dass das Werk Dürers durchaus direkt in Verbindung mit der Brautkultur gebracht werden könnte, davon zeugt eine Interpretation für ein Brautpaar. Bernheimer erwähnt, dass für das Hochzeitsgeschenk der Isabella Gonzaga mit dem Marchese di Pescara 1556 das Motiv Dürers kopiert wurde; statt des Totenschädels befindet sich die Imprese der Gonzaga im Schild (vgl. Bernheimer 1952, S. 184. Bernheimer gibt den Hinweis, dass sich ein Stich der Darstellung im Besitz von Samuel Crew (1888-1960), ehemaliger Professors für Englisch am BrynMawr College, befindet.). Der Totenschädel, oder besser das Kranium, bringt das Bild mit Vanitas-Darstellungen und Memento Mori in Verbindung.
Im Wernigeroder Wappenbuch aus dem letzten Viertel des 15. Jh. befindet sich eine Darstellung des Wappens des Todes. Auch Dürers Stich wurde immer wieder mit dem Wappen des Todes in Verbindung gebracht. Kurios erscheint, wie in Kapitel 4.2. bereits erörtert, dass Dürers Totenschädel nahezu plastisch aus dem Schild hervorspringt, gleichzeitig aber flächig erscheint. Das Kranium erscheint grotesk, da es überdies eine Art „Mimik“ besitzt: Die leeren Augenhöhlen scheinen zweifelnd drein zu blicken. Außerdem zeigt die Zahnreihe des Oberkiefers nur noch zwei krumme Schneidezähne. Die Kombination von naturalistischer Darstellung und physiognomischer Übertreibung lassen den Totenschädel fast zur Karikatur werden und nehmen ihm damit den ernsten Charakter einer reinen Vanitas-Darstellung.
In Dürers Stich scheint der Totenschädel für das ungleiche Paar Nebensache zu sein, auch wenn er bildkompositorisch heraussticht. Im Sinne der Memento-Mori-Darstellung würde die Verbindung zur Angst vor dem plötzlichen Tod passen. Die Dame hat jedoch nichts von der nackten ängstlichen Jungfrau wie bei Grien oder der sich zur Wehr setzenden Frau in Der Gewalttätige. Die falsche Sicherheit der Dame könnte auch Überheblichkeit sein. Keines der beiden Geschlechter scheint hier schwächere oder negativer als das andere dargestellt zu sein.
Der Wilde Mann entstand im Mittelalter als eine Art Ventil, als eine Figur, welche sexuelle und unsittliche Fantasien ausleben konnte, die der streng religiösen Welt untersagt war. Er wird der Entführer von Jungfrauen. Er wird mit dem Teufel oder der Personifizierung des Todes selbst zuweilen identifiziert. Zur gleichen Zeit gelangt er jedoch in die Heraldik in dem seine Qualitäten ganz anders zum Ausdruck kommen. Wie einleitend erwähnt haben Husband und vor ihm auch schon Bernheimer die Entstehung und Entwicklung des Wilden Mann in Verbindung mit gesellschaftlichem Wandel gebracht: Er ist nicht nur ein Abbild der Veränderung der Gesellschaft, sondern zeigt eben auch den Umgang der Gesellschaft mit diesem Wandel auf.
Dürers Wilder Mann entsteht von der Hand eines humanistisch geprägten gebildeten Renaissance-Mannes. Dürer schafft es in seinem Stich all die Facetten des wilden Mannes aufzugreifen, Andeutungen zu bringen und doch immer einen Gegenbeweis zu liefern. Handelt es sich um eine Personifikation des Todes, um einen Wappenhalter, um eine Ermahnung wollüstiger junger Mädchen? Im Laufe des letzten Jahrhunderts wurden immer wieder neue Deutungen in den Stich hineininterpretiert. Gilmore-House nennt Dürers Wilden Mann „one of the most complex armorial supports in the history of arts“ (Gilmore-House 1980, S. 195).
Das Wappen mit dem Totenkopf ist nicht nur ein Ergebnis meisterhafter Kupfersticharbeit mit all seinen Details, sondern auch das Werk eines gebildeten Künstlers, welcher sich intensiv mit den diversen Themen seiner Zeit auseinandersetzte. Dürers schafft somit eine neue Darstellungsform für den Wilden Mann seiner Zeit, der in seiner Vielschichtigkeit von seinen Nachfolgern unerreicht bleibt. In der humanistischen Welt gerät der Wilde Mann als Sündenbock und Projektionsfläche der Gesellschaft in Vergessenheit.
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Autorin: Nadine Raddatz