Der Held
Marcus Curtius
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Georg Pencz: Marcus Curtius, 1535
Kupferstich, 117 x 79 mm, Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg.
Nicht alle Helden tragen Strumpfhosen oder Spandexanzüge – der Renaissance-Held Marcus Curtius bevorzugt bei seiner Rettung der Stadt Rom die altertümliche Variante des körperbetonten Heldenkostüms: eine edle Rüstung.
Zudem rettet dieser Held nicht mit Hilfe von Superkräften, sondern nur durch seinen gerüsteten Körper und seinen Edelmut.
Doch hat der römische Held Marcus Curtius eins mit Superman und seinen modernen Heldenkollegen gemeinsam: Er ist ein Exportschlager!
Wie kommt also der römische Held nach Nürnberg und waren Helden schon damals so realitätsfremd wie Superman?
Und was hat das Renaissance-Pendant eines Panini-Sammelalbums damit zu tun?
Bei dem Werk handelt es sich um einen Kupferstich mit den Maßen von 11,7 mal 7,9 Zentimetern.
Der Erhaltungszustand des Blattes ist gut: Der Druck ist farbintensiv und hat ein kleines Rändchen. Das Blatt ist leicht vergilbt und hat vereinzelte, sehr helle Flecken, Verfärbungen und winzige Risse an der Oberseite.
Das Werk kann ungefähr um 1535 datiert werden. Der Stich ist im Jahr 1979 in den Besitz der graphischen Sammlung Nürnberg gelangt und wurde auf einer Auktion des Hauses Karl und Faber in München erstanden.
Die Szene des kleinformatigen Stiches ist wie eine Momentaufnahme festgehalten: Ein muskulöser Mann sitzt in aufrechter Position mit gezücktem Schild und Schwert und in edler Rüstung auf seinem sich aufbäumenden Pferd. Sein Blick ist fest auf den dunklen Spalt im Boden vor ihm gerichtet.
Im Hintergrund, vor römisch anmutender Architektur wohnt eine kleine Gruppe von augenscheinlich ergriffenen und aufgebrachten Zuschauern dem Spektakel bei.
Zur linken, unteren Seite des Stiches tut sich dunkel und klaffend ein länglicher Spalt im Boden auf, aus dem dichter Dunst emporsteigt.
Auf der mittleren Bildachse bäumt sich das Pferd auf, im Begriff, vor dem Erdspalt zu fliehen, oder ihn vielleicht durch einen Sprung zu überqueren. Den Kopf dreht es mit weit aufgerissenem Maul und geblähten Nüstern von dem Anblick des Spaltes weg.
Auf dem Rücken des Pferdes sitzt ein römischer Soldat, der mit einem Muskelpanzer sowie schmückenden Rüstungsteilen an Schultern, Hals und Beinen gerüstet ist. Sein Kopf ist mit einem prächtigen Helm bedeckt, von dem ein ausladender Federbusch ausgeht, der ihm in den Nacken reicht.
Wehrhaft hebt der Soldat seinen Schild zum Schutz vor sein bärtiges Gesicht und streckt sein Schwert, zum Stich bereit, vor sich – so, als wolle er dem Erdspalt vor sich den Kampf ansagen.
Rechts und links hinter dem Soldaten, auf seinem sich aufbäumenden Pferd, finden sich zwei Zuschauergruppen, die bestürzt der Szene beiwohnen, wenn sie denn vor lauter Ergriffenheit hinsehen können.
In der Mitte der linken Gruppe tritt ein bärtiger Mann mit verzweifeltem Gesichtsausdruck hervor, der seine Arme hebt, als sei er im Begriff, seine Bestürzung kundzutun, und den Helden vielleicht zu einer anderen Handlungsweise zu überreden.
Die beiden Männer hinter ihm werden zum größten Teil von der mittleren Figur verdeckt und wagen nur zögernden Blickes, die dramatische Szene zu betrachten.
Die Zuschauerfigur der rechten Seite hat sich vom Geschehen abgewandt und verdeckt in einer Geste des Entsetzens mit der Hand ihren Mund.
Alle Zuschauerfiguren sind in einfache Tuniken gekleidet.
Gerahmt wird die Szene zur linken und zur rechten Seite von schmal angerissenen Darstellungen römisch anmutender Architektur. Hinter der linken Zuschauergruppe erhebt sich ein zweistöckiges, helles Gebäude mit Arkadenfenstern, die rechte Seite wird eingerahmt mit dem verschatteten Ausschnitt eines undefinierbaren Gemäuers, von dem Pflanzen herunterwachsen.
Auf einer Anhöhe hinter der Hauptszene öffnet sich der Blick auf eine Art Vorplatz, der sich vor einer kirchenartigen Phantasiearchitektur öffnet. Hinter dem großen, kirchenähnlichen Gebäude liegt ein kleines Dörfchen. Es bleibt jedoch unklar, was die Architektur genau darstellen soll.
Innerhalb der dynamischen Komposition ist die Reiterfigur der senkrechte Fixpunkt in der Mitte des Stiches, auf den sich alles auszurichten scheint.
Der Aufbau der zentralen Komposition ist pyramidal und setzt sich aus dem Pferd mit dem Reiter und den die beiden einrahmenden Zuschauergruppen zusammen.
Die diagonalen Bewegungsrichtungen dominieren den ersten Bildeindruck: eine Diagonale verläuft vom Erdschlitz über den genau auf der Diagonale liegenden Körper des Helden und wird durch die Pflanzen des abgebrochenen Torbogens betont. Die andere Diagonale verläuft durch den Hinterlauf des Pferdes durch den direkt über der Diagonale liegenden Kopf und gipfelt wiederum in der einrahmenden Architektur.
Zudem bildet der abgebrochene Torbogen mit der Ergänzung des emporgehobenen Schildes und dem Pferdehals ein Oval um den aufrecht sitzenden Helden und akzentuiert diesen.
Das Schwert des Helden betont direkt die horizontale Mittellinie des Stiches.
Zwischen Vorder-, Mittel- und Hintergrund wird durch den Einsatz verschiedener Kontrastverteilungen und Strichtechniken vermittelt, und die verschiedenen Bildebenen von Vorder-, Mittel- und Hintergrund gehen harmonisch ineinander über.
Um tiefer in die Materie der Darstellung einsteigen zu können, muss die Frage erläutert werden: Welche Historie verbildlicht Georg Pencz in diesem Kupferstich? Wer ist der Reiter namens Marcus Curtius, der, im Sprung begriffen, in der Luft schwebt, und was hat es mit dem bedrohlichen Spalt im Boden auf sich? Wer ist dieser Held und was macht ihn zu einem?
Bei dem dargestellten Geschehen handelt es sich um eine Erzählung aus ‚Ab urbe condita libri‘ des Titus Livius, die zu augustinischer Zeit entstanden sind (Livius, 1821). Die ‚Ab urbe condita libri‘, sind eine Historiensammlung über die Geschichte der Stadt Rom, von ihrer Gründung an erzählt. So bedeutet der Titel wörtlich übersetzt ‚von der Gründung der Stadt an‘. Von dieser ursprünglich einmal 142 Bücher umfassenden Geschichtssammlung sind heute noch 10 Stück erhalten. Eine dieser Geschichten handelt vom besagten römischen Soldaten Marcus Curtius und seinem edlem Opfer für die Stadt Rom.
Ob es sich bei der Geschichte des Marcus Curtius um eine reale Begebenheit handelt, stellt Livius bereits im Originaltext zur Frage, jedoch überliefert er Folgendes:
362 v. Chr. soll sich im Forum Roms ein unauffüllbarer Erdspalt aufgetan haben. Bei den Überlegungen, wie der Spalt zu füllen sei, kommt der Gedanke auf, das klaffende Loch könnte durch die Opferung des wertvollsten Besitztums Roms geschlossen werden.
Doch nachdem weder edle Speisen noch wertvolles Geschmeide den Erdspalt wieder schließen konnten, kommt der römische Soldat Marcus Curtius auf den Gedanken, dass vielleicht die Tugend und die Tapferkeit der römischen Soldaten den Spalt ‚besänftigen‘ könne und er so verschwinde. So fackelt Marcus Curtius nicht lange, stellt sein eigenes leibliches Wohl hinter das seiner Heimat und stürzt sich als Repräsentant für das römische Heer in den Spalt, gefolgt von weiteren Gaben und Früchten des Volkes. Das selbstlose Opfer des Soldaten wird belohnt, der Erdspalt schließt sich nach seinem Sturz tatsächlich wieder und in Rom kehrt dank des Edelmuts des Marcus Curtius wieder Frieden ein.
Pencz weiß die Szene der Ungewissheit kurz vor dem Sturz intensiv und eindrucksvoll umzusetzen. Der Held bäumt sich sprichwörtlich noch einmal gegen den Tod auf und stürmt mit Schwert und Schild seinem ungewissen Schicksal entgegen. Sein Pferd scheint fliehen zu wollen, doch der entschlossene Marcus Curtius hat die Augen fest auf sein Ziel gerichtet. Vielleicht kann er sein Volk durch das Opfer retten, doch sicher ist es in dem dargestellten Moment noch nicht. Diese Darstellungsformkurz vor dem Todessturz des Marcus Curtius ist jedoch keine originäre Bilderfindung von Georg Pencz selbst.
Richtet man den Blick nach Italien, findet sich dort der Ursprung für die Darstellungsform des Penczschen Stiches, nämlich in der Marcus-Curtius-Darstellung des Marcantonio Raimondi von ca. 1500/1515. Dass sich das Vorbild für das Marcus-Curtius-Motiv in Italien findet, verwundert nicht, da das Interesse an antiken Themen in Italien bereits während des 15.Jahrhunderts wieder erwacht war (siehe 4. Kontextualisierung).
Der Kupferstich Marcantonio Raimondis muss definitiv Vorbild für die Ausführung des Motivs gewesen sein, denn, vergleicht man die beiden Darstellungen des Todessturzes, ist die Ähnlichkeit eklatant und der Stich des Georg Pencz scheint wie eine weiterentwickelte Kopie nach Raimondi im Gegensinne.
Beide Ausführungen haben die Grundkomposition des sich diagonal in den Bildraum aufbäumenden Pferdes und des aufrecht darauf thronenden, das Schwert zückenden Marcus Curtius gemeinsam. Auch die Haltung der Figuren ist identisch: die Läufe des Pferdes, die des Schwertarms sowie die Bein- und Oberkörperhaltung. Dennoch schafft es Georg Pencz, seine Darstellung des Geschehens durch ein paar ikonographische Neuerungen und Kniffe intensiver zuzuspitzen, denn jede Faser der bei Pencz dargestellten Figuren wirkt angespannter und dynamischer als die italienische Darstellung, und die Szene insgesamt wirkt atmosphärischer. Und das, obwohl sich im Stich des Georg Pencz kein geschmücktes Pferd, kein wehender Umhang und kein Löwenfell finden, um die Wirkung der Szene zu verstärken.
Pencz‘ Mittel sind subtiler:
Die Rüstung des Penczschen Marcus Curtius schmiegt sich so sehr an den Körper, dass sie kaum noch als Rüstung erkennbar ist, und der Held erscheint verwundbar nackt, bis auf seinen Helm mit weit ausladendem Federbusch und einigen zierenden Rüstungselementen wie den Schulterkacheln und Volutenspangen an seinen Unterschenkeln. Nichts, was den Helden bei seinem Sturz schützen könnte. Pencz setzt die Impression der Nacktheit geschickt ein, um das Opfer und den Todessturz noch dramatischer wirken zu lassen.
Der Körper des Helden wirkt im Gegensatz zu seinem italienischen Pendant viel gespannter durch die plastischere Ausarbeitung der Muskelpartien und durch starke Hell-Dunkel-Kontraste, auch wenn die Grundhaltung der beiden Figuren die gleiche ist. Ähnliches gilt für den Kopf und das Gesicht des Helden, bei dem Georg Pencz durch eine detailreichere und kleinteiligere Gestaltung einen intensiveren Eindruck erzielt und so automatisch eine stärkere Identifikation des Betrachters mit dem Helden hervorruft, als es mit dem Gesicht des italienischen Marcus Curtius der Fall ist.
Dieses scheint durch seine Idealschönheit fast anonym, im Gesicht dieses Helden zeigt sich, im Gegensatz zur deutschen Variante, kaum eine erkennbare Regung. Das Gesicht des deutschen Marcus Curtius hingegen ist zwar recht verschattet und die Hälfte davon ist von einem ausladenden Bart verdeckt, doch trotz ausladender Gesichtsbehaarung und Schattenpartien ist die Anstrengung und der innere Kampf in dem Gesicht deutlich abzulesen. Die Augen des Helden sind fast zugekniffen, als wolle er sie vor dem beißenden Rauch schützen, und der Mund ist in grimmiger Entschlossenheit zusammengekniffen.
Auch die Position der Waffen im Stich Georg Pencz‘ vermittelt mehr Drang zur Heldentat. Während das kurze Krummschwert des italienischen Marcus schlaff an seiner Seite herunterhängt und auf den Erdspalt weist, reißt die horizontale Haltung der deutschen Variante den Bildaufbau noch einmal dramatisch auf, und Marcus Curtius hält es, zum Stich bereit, vor sich, ebenso wie den ergänzten Schild, den er schützend vor sein Gesicht hält.
Das Pferd verleiht der Penczschen Version des Helden zusätzlich eine zielstrebige Note, da sich das Pferd dieser Umsetzung vehement gegen das Vorhaben seines Reiters zu sträuben scheint und versucht, im letzten Moment noch auszureißen. Der Held hält jedoch an seinem Vorhaben, Rom vielleicht zu retten, fest.
Zusätzlich gewinnt der Stich des Georg Pencz noch Einiges mehr an Atmosphäre durch die Verortung der Szene vor einer ergriffenen, divers dargestellten Menschengruppe, die dem Selbstopfer ergriffen beiwohnt und die Haltung des Betrachters anregen und widerspiegeln soll. Zudem begrenzt Pencz das landschaftliche Umfeld der Szene nicht nur auf den Erdspalt, sondern er versucht, die Darstellung durch eine römisch anmutende Häuserkulisse noch lebendiger zu gestalten.
Das Besondere an dem kleinformatigen Kupferstich des Marcus Curtius ist seine (wortwörtliche) Vorreiterfunktion im Schaffenskreis der sogenannten Nürnberger Kleinmeister. Bei diesen Kleinmeistern (siehe die Biographien der Gebrüder Beham: Bartel Beham und Hans Sebald Beham) handelt es sich um eine Gruppe Nürnberger Kupferstecher um Pencz herum, die sich auf Miniaturkupferstiche verschiedenster Motive spezialisiert hatte und deren Finesse darin bestand, die komplexesten Motive auf kleinstem Raum darzustellen. Der Kupferstich des Marcus Curtius ist ebenfalls ein solcher kleinmeisterlicher Stich, jedoch der erste im breiten Œuvre der Kleinmeister, der diese Historie verbildlicht.
Dass sich der Kupferstich des Marcus Curtius von Georg Pencz aus einem Frühwerk seines italienischen Kollegen Marcantonio Raimondi heraus entwickelt hat,scheint nach einer vergleichenden Betrachtung nicht abstreitbar zu sein. Doch wie genau kam der Nürnberger Kupferstecher und Maler Georg Pencz an den italienischen Kupferstich?
Um der Reise des Marcus Curtius nach Deutschland und bald darauf in die Herzen der Sammler auf die Spuren zu kommen, muss man den Blick zuerst auf die Penczsche Biographie richten (Voran gestellt sollte werden, dass es in der Forschung aufgrund der wenigen Quellen zu Pencz zu diskutieren bleibt, wie genau die Transferfrage des Motives zu beantworten ist).
Der Mangel an Informationen zu der Person des Georg Pencz in den Dokumenten seiner Heimatstadt Nürnberg von 1526 – 1529 nach den Prozessen um die „Gottlosen Maler“, zu denen auch seine Kleinmeister-Kollegen Sebald und Bartel Beham (siehe Biographien Georg Pencz und Beham Brüder: Barthel Beham und Hans Sebald Beham) gehörten, kann ein Anhaltspunkt für eine eventuelle Italienreise Pencz‘ sein. Die Vermutung liegt nahe, dass der Künstler sich in der Zeit seiner Verbannung aus Nürnberg auf eine Bildungsreise nach Italien begab (Martin Knauer: Kupferstiche deutscher Kleinmeister. Zur Erforschung eines Bildmediums in einer Epoche kulturellen Umbruchs. In: Möseneder, Karl (Hg.): Zwischen Dürer und Raffael. Graphikserien Nürnberger Kleinmeister. Petersberg, 2010, S. 9–16, hier S. 15. Bettina Keller:„Weldtliche historien außm Livio, Ovidio etc.“ (um 1543): Georg Pencz, die Antike und Italien. In: Möseneder, Karl (Hg.): Zwischen Dürer und Raffael. Graphikserien Nürnberger Kleinmeister. Petersberg, 2010, S. 139–160, hier S. 140), wie viele seiner zeitgenössischen Kollegen, beispielsweise Albrecht Dürer. Dennoch kann es sich bei dieser Vermutung auch um den in der Forschung beliebten Topos der über die Alpen reisenden deutschen Künstler handeln, denn über einen Aufenthalt des Georg Pencz in Italien finden sich keine gesicherten Quellen (Katrin Dyballa: Gerorg Pencz. Künstler zu Nürnberg. Berlin 2014. S. 75).
Folgt man jedoch der Vorstellung der Penczschen Italienreise und lässt sich auf den Bereich der Spekulation ein, so könnte der Kunsthistoriker Joachim von Sandrart Aufschluss darüber geben, wie Pencz wohl Einsicht in die Stiche Raimondis erhalten habe. Sandrart bestätigt in seiner ‚Teutschen Academie der Edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste‘ die Italienreise Pencz‘ ‚, zudem weiß er zu berichten, dass Pencz mit Marcantonio Raimondi zusammen gearbeitet haben soll (ebd.).
Italienische Quellen belegen diese Zusammenarbeit der beiden Künstler jedoch nicht, und so ist diese alleinstehende Quelle mit Vorsicht zu genießen.
Schenkt man den Aussagen Sandrarts nun Glauben oder nicht, so ist doch sehr auffallend, dass eine Vielzahl der Stiche der Kleinmeister auf Vorbilder des italienischen Meisters Marcantonio Raimondi zurückzuführen sind. Dabei handelt es sich nicht nur um Penczsche Motive, sondern auch um die der Gebrüder Beham (siehe Gebrüder Beham: Barthel Beham und Hans Sebald Beham; Dyballa S. 82 und 84; Albert Oberheide: der Einfluss Marcantonio Raimondis auf die nordische Kunst des 16. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Graphik. Hamburg 1933). Dennoch war es nicht zwingend notwendig, nach Italien zu reisen, um die Stiche italienischer Meister wie die Raimondis studieren zu können, denn gerade Stiche großer Meister wie die Raimondis verbreiteten sich in Europa als Studienmaterial für andere Künstler und vice versa (Henry Thode: Die Antiken in den Stichen Marcanton’s, Agostino Veneziano’s und Marco Dente’s. Leipzig, 1881, S. 1). So ist es also auch möglich, dass Pencz und seine Künstlerkollegen auch ohne den Umweg nach Italien an das neue italienische Motivrepertoire gelangt sind.
Doch muss es unbedingt ein italienisches Vorbild gewesen sein? Oder hat der Penczsche Marcus Curtius etwa einen deutschen Ahnherrn? Tatsächlich existiert vor der Ausführung des Marcus Curtius durch Georg Pencz ein weiterer kleinmeisterlicher Stich mit demselben Thema aus dem Nürnberger Umfeld, nämlich die Umsetzung des Marcus Curtius des Monogrammisten IB von circa 1529, sechs Jahre vor der Entstehung der hier betrachteten Version. Bei der Ausführung des Monogrammisten IB handelt es sich um einen medaillonförmigen Kupferstich, der den Sprung des Marcus Curtius von hinten darstellt. In dieser Ausführung sitzt der Held nackt auf dem sich aufbäumenden Pferd. Der Helm erinnert bis auf den fehlenden Federbusch und die Ausschmückungen an den der Penczschen Version; ebenso wie der ovale Schild, den der Held am linken Arm trägt, die Haltung des Pferdes sowie die Ausgestaltung des dunklen Erdlochs, aus dem Flammen und dicker Rauch emporsteigen. Es ist also auch nicht unrealistisch, dass Georg Pencz diesen Stich des Monogrammisten IB gekannt hat. Beinahe wirkt der Stich des Georg Pencz wie ein Hybrid des Stiches von Raimondi und des Meisters IB.
Der Monogrammist IB schien die Ausführung Raimondis jedoch noch nicht gekannt zu haben, da die Version des Meisters IB im Gegensatz zu der italienischen Variante doch recht eigenständig ausgeführt ist.
Also muss die Geschichte um Marcus Curtius schon vor der Einführung des Stiches Marcantonio Raimondis bekannt gewesen sein.
Doch von woher könnte der Monogrammist IB die Anregung für das Thema bezogen haben?
Eine denkbare Antwort auf diese Frage führt zur Ausgestaltung des Nürnberger Rathauses, genauer der Südwand des großen Saales durch Albrecht Dürer und seinen Freund, den Humanisten Wilibald Pirckheimer, im Jahr 1521 (Matthias Mende: Das alte Nürnberger Rathaus. Baugeschichte und Ausstattung des großen Saales und der Ratsstube. Band 1. Nürnberg, 1979, S. 245 und 80 f.). Diese sollte nämlich durch zwölf Rundbilder mit humanistischen Motiven geschmückt werden (ebd. S. 80). Keines davon zeigt die Geschichte des Marcus Curtius, doch es ist denkbar, dass Pirckheimer und Dürer das Motiv des Marcus Curtius ins Gespräch gebracht haben könnten und dann für die Wandausgestaltung wieder verworfen haben.
Vielleicht gab es heute verschollene Entwurfszeichnungen für ein Marcus-Curtius-Motiv, das dann einige Jahre später vom Monogrammisten IB in seinem Marcus-Curtius-Kupferstich adaptiert wurde. Die runde Form des Stichs könnte diese Vermutung stützen.
Oder war der Monogrammist IB gar selbst in die Ausgestaltung des Rathauses verwickelt?
Der Monogrammist IB ist nicht im Forschungsgespräch um eine eventuelle Mitarbeit am großen Saal des Nürnberger Rathauses, jedoch der Maler und Kupferstecher Georg Pencz (Knauer, Kupferstiche der deutschen Kleinmeister, S. 15 und Dyballa, S. 17). Wirft man nochmals einen genauen Blick auf die Ausführungen des Marcus Curtius durch den Monogrammisten IB und die des Georg Pencz, fallen doch einige Übereinstimmungen in der Stichtechnik ins Auge: Die Ausgestaltung der Flammen durch lange parallele Stiche, sowie der Schweif. Die Ansätze von starken Hell-Dunkel- Kontrasten sowie die motivischen Übereinstimmungen, die, wie schon erwähnt, im Marcus Curtius Stich von Georg Pencz wie weiterentwickelt wirken. Diese Übereinstimmung könnte das entscheidende Detail sein, das Licht ins Dunkel um die Spurensuche des Marcus Curtius in das Œuvre von Georg Pencz bringt. Denn: ist der Monogrammist IB gar Jörg Bencz, später bekannt als Georg Pencz? (Ebd. S. 15.) Diese These, dass Georg Pencz in der Frühphase seines Schaffens noch mit IB signierte, ist in der Forschung durchaus beliebt und kann durch Stichpaare wie die beiden Marcus-Curtius-Stiche durchaus belegt werden (Dyballa S.55 f. und Knauer: Kupferstiche der deutschen Kleinmeister, S. 15).
Wenn man dieser These folgt, kann der Weg des Marcus Curtius nämlich ungefähr so verlaufen sein: Bei der Ausgestaltung des Rathauses könnte Georg Pencz durch Dürer mit dem Motiv vertraut gemacht worden sein. Mag man der These folgen, dass Pencz nicht bei der Ausgestaltung des großen Rathaussaales beteiligt war (Mende S. 80 f.), ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass Pencz zwischen 1521 und der Ausführung des ersten Marcus-Curtius-Stiches 1529 durch die Nürnberger Humanisten mit dem Motiv bekannt wurde.
Nach dem ‚ersten Versuch‘ der Adaption der Marcus-Curtius-Geschichte muss Georg Pencz entweder durch die Italienreise oder auf anderem Wege mit der Version Marc Antonio Raimondis in Berührung gekommen sein. Dies wird ihn dazu veranlasst haben, das Motiv zu überarbeiten und seine ursprüngliche Idee mit der italienischen Variante zu verbinden.
Jedoch sollte an dieser Stelle noch einmal klargestellt werden, dass Georg Pencz der erste Künstler war, der das Motiv des Marcus Curtius als kleinmeisterlichen Stich im Umkreis der Nürnberger Kleinmeister adaptiert hat. Außerhalb dieses Künstlerkreises gab es bereits vorher Umsetzungen des Motivs, beispielsweise durch Albrecht Altdorfer und Heinrich Aldegrever. Jedoch ist es ungewiss, ob Pencz diese Darstellungen kannte.
Was genau veranlasst Georg Pencz dazu, seinen „Marcus Curtius 2.0“ zu kreieren, sowie einige weitere Stiche aus seiner Zeit als Monogrammist IB anhand von Vorlagen nach Marcantonio Raimondi zu überarbeiten?
Auffallend ist, dass es größtenteils profane Darstellungen wie die des Marcus Curtius sind, die mit einem Seitenblick auf italienische Vorbilder wie die Stiche Marcantonio Raimondis gestaltet sind (Oberheide und Keller, S. 139). Um den Ursprung dieses Phänomens zu klären, muss das Publikum betrachtet werden, für das Pencz seine Stiche gestaltete, nämlich das der Nürnberger Humanisten. Das Sammlerpublikum der Nürnberger Kleinmeister wuchs schnell, und eine Vielzahl von Motiven wurde in Einklebealben gesammelt (Knauer, Kupferstiche der deutschen Kleinmeister, S. 15). Mit wachsendem Publikum wurde auch das Bedürfnis nach einem größeren Motivkanon groß, und so richtete sich allen voran Georg Pencz nach dem von Italien nach Deutschland schwappenden Zeitgeist des Humanismus und den damit verbundenen Antikendarstellungen.
Georg Pencz war der erste der deutschen Kleinmeister, der den ‚Trend‘ erkannte und seine Themenwahl nun gezielt auf antike Darstellungen erweiterte, unter anderem auch auf eher unbekannteren Geschichten wie die des Marcus Curtius (Knauer: Kupferstiche deutscher Kleinmeister, S. 16 und Keller S. 139). Gerade die Darstellungen nicht so verbreiteter Themen erfreuten sich der größten Nachfrage unter dem humanistischen Publikum, das stets versuchte, ihre Sammlungen antiker Darstellungen und Erzählungen um ein weiteres, rares Stück zu vergrößern (ebd. und ebd.). So kam es, dass das Œuvre Pencz‘ zu 20 Prozent aus antiken Darstellungen besteht, die er zum Teil zum ersten Mal als deutscher Künstler umsetzte (Keller S. 139). Dadurch erklärt sich auch die Ähnlichkeit vieler Stiche mit antiken Motiven mit denen Raimondis, da durch den wachsenden Sammlermarkt das Bedürfnis an immer neuen Bildthemen groß wurde, jedoch für die meisten gab es noch keine ikonographische Tradition, und so half man sich mit den ‚großen‘ Brüdern aus Italien weiter und entwickelte deren Motive für den deutschen Markt weiter (Knauer, Kupferstiche der deutschen Kleinmeister, S. 15, Dyballa S. 81). So schließt sich der Kreis wieder zu dem Motiv des Marcus Curtius, das sich unter den Sammlern größter Beliebtheit erfreute, so sehr, dass auch die Kollegen Georg Pencz nachzogen und Variationen dieses Motivs produzierten, nachdem sie an Pencz sahen, dass es lukrativ war.
Joachim Sandrart zählt das Motiv des römischen Helden als eines der ‚edelsten‘ aus dem breiten Œuvre der antiken Darstellungen Pencz‘ auf (Keller S. 139). Doch weshalb genau erfreute sich das Motiv des römischen Helden so großer Beliebtheit?
Zuerst einmal ist die Beliebtheit des Motivs mit der Popularität allegorischer Erzählungen bei den Humanisten zu begründen, zu denen die des Marcus Curtius auch zählt (ebd.). In der Theorie ist Marcus Curtius schließlich ein Held par excellence! Der noble römische Soldat aus gutem Hause, der ohne Gedanken an sich selbst sein Leben für die Stadt Rom opfert. Ein Paradebeispiel moralischer Erbauung für junge römische Männer und Soldaten, ein Inbegriff des römischen Männlichkeitsideals, der sogenannten virtus, die nur den ‘Illustri viri atque imperatores et belli duces‘, den ‚Hervorragende Männern‘ (was ein hochrangiger Titel im römischen Reich war) und Herrschern und Kriegsführern vorbehalten war (Carolyn Springer: Armour and Masculinity in the Italian Renaissance. Toronto 2010. S. 20).
Der Appell an die Tugend und die Ehre des Mannes ist hinter der Geschichte und bei der Umsetzung dieses Motivs nicht zu übersehen. Er wird pathetisch und dramatisch in Szene gesetzt: der Held, der für sein Land stirbt. Der Opfertod des Soldaten scheint dem Ehrprinzip nach ganz selbstverständlich. Oder doch nicht?
Denn letztendlich ist dies eine Geschichte aus römischer Zeit. Wie sah das Männerbild jedoch zu Zeiten des Georg Pencz aus? Sprach das Motiv außer der Lust auf seltene Sammlerstücke noch etwas bei seinem Publikum an? Um herauszufinden, ob man aus diesem Stich etwas über die Auffassung von Männlichkeit und dem Heldentum in der Renaissance herauslesen kann, muss zuerst das Männlichkeitsbild der Renaissance umrissen werden, das sich doch in einigen Punkten vom heutigen Verständnis unterscheidet.
Ein klares Männerbild lässt sich im 21. Jahrhundert nicht mehr klar benennen. In der Renaissance jedoch gab es drei Faktoren, an denen die Männlichkeit zu bemessen war: Die Lebensphase des Mannes, denn ein junger Mann in der Blüte seines Lebens war edler und wertvoller als ein alter Greis, der die Hochphase seines Lebens schon lange hinter sich hatte.
Der soziale Stand des Mannes, denn mit einer hohen gesellschaftlichen Position ging, der Idealvorstellung nach, Edelmut, Tugend und ein gebildete Geist einher. Das wichtigste jedoch war die Ehre eines Mannes, welche mit allen Mitteln zu bewahren war (Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000). Wien, Köln, Weimar, 2003, S. 79). Soweit die Gleichung zum perfekten Mann der Renaissance, doch wie handelt dieser Idealmann?
Nach dem Verständnis der Renaissance sollte der Mann auch in unerwarteten und gefährlichen Situationen mutig und selbstlos agieren. Seine Handlungen sollten stets von Entschlossenheit und Rationalität geprägt sein, denn emotionales Handeln wurde Frauen und Jünglingen zugeschrieben (ebd. S. 95). Das geistige Konstrukt der Männlichkeit ist zudem stark mit dem Körper selbst verbunden, denn mit diesem sollte der Mann seine Ehre und seine Werte verteidigen. Man könnte beinahe von einem ‚Körperkult‘ der Renaissance sprechen: Der männliche Körper galt als die Grundform des Körpers, in ihm war die Herrlichkeit und Schönheit der Natur zu sehen. Der weibliche Körper hingegen wurde zwar auch idealisiert, dennoch nur als eine Spielart des männlichen gesehen, denn der Körper des Mannes war der Vorstellung nach viel erhabener (Schmale S. 79).
Seit jeher sind Helden das Idealabbild eines Mannes, des Übermannes, der sich durch seine Taten und Fähigkeiten über die andern Zeitgenossen erhebt und so zum Helden wird.
So ist ein Held der Renaissance der Theorie nach ein besonders ehren- und tugendhafter Mann, der rational handelt und sein körperliches Wohl dem Ehrprinzip unterstellt. Der römische Soldat Marcus Curtius scheint also genau den Nerv der Zeit zu treffen, auch wenn es eine Legende aus der römischen Zeit ist.
Alle Umsetzungen dieses Themas, inklusive der Darstellung des Georg Pencz, legen ihren Fokus der Darstellungsweise auf den männlichen Idealkörper, den Tempel, der die Tugend und Ehre beinhaltet und sie gleichzeitig bewahrt.
Beim Monogrammisten IB liegt der Fokus noch nicht so sehr auf dem Idealkörper, denn Marcus Curtius ist noch von schräg hinten dargestellt, jedoch ist der edle Held nackt dargestellt, was jedoch auch einer Anlehnung an Antikendarstellung geschuldet sein könnte. Bei Aldegrever und Raimondi hat sich der Darstellungsfokus jedoch sehr offensichtlich zu einer körperbetonten Darstellung des Themas gewandelt.
Aldegrevers Marcus Curtius ist ebenfalls nackt, genau wie die jungen Damen, die versuchen, ihn an seinem Vorhaben zu hindern, was der gestählte Held nur abwinkt. Die Darstellung der Geschichte erfordert eigentlich keine Nacktheit, doch die Realisierung des Themas durch Aldegrever scheint eher eine Hommage an den idealen Männerkörper des Helden zu sein als der Versuch einer emotionalen Darstellung der Geschichte, denn der Sprung in den Erdspalt ist aus dem Kupferstich nicht sofort herauszulesen, und zudem scheint dieser eher nebensächlich neben all den schönen Körpern.
Die Umsetzung des Stoffes ist bei Raimondis Marcus Curtius um einiges deutlicher, weshalb sich Pencz vermutlich auch diesen Kupferstich zur Überarbeitung seines Marcus Curtius Motivs gewählt hat, obwohl er auch den von Heinrich Aldegrever gekannt haben könnte. Die Balance zwischen der Ausführung der edlen Handlung und dem idealen Körper, der sie ausführt, wird gehalten. Zusätzlich wird der soziale Stand des Helden durch die edle Rüstung mit dem ausladenden Federbusch und der den Körper noch zusätzlich betonenden Rüstung akzentuiert.
Das Gesicht des Helden ist jung und ebenmäßig, irgendwo zwischen Mann und Jüngling, jedoch schaut der Held über seinen baldigen Tod etwas unbeeindruckt drein, was jedoch auch eine Umsetzung des stoischen Willens des Helden sein könnte.
Das Löwenfell betont nur mehr den Mut des Helden, und der Umhang, der sich ausladend hinter dem reitenden Helden ausbreitet, verleiht der Handlung mehr Gewicht und Dynamik im Bildraum. Doch um die Darstellung der Männlichkeit und des männlichen Heldentums noch besser zu verstehen, sollte vor der finalen Betrachtung des Helden Marcus Curtius von Georg Pencz noch der Umweg über die Darstellung einer Heldin aus dem gleichen Zeitraum genommen werden.
Denn das weibliche Pendant des Helden ist nicht so glorreich, wie man bei der Betrachtung des Marcus Curtius denken sollte.
Als Vergleichsbild dient eine Darstellung der alttestamentarischen Geschichte der Judith, die es durch einen gewitzten Plan, Mut und Selbstlosigkeit schafft, das Volk der Israeliten von der Belagerung und Tyrannei des assyrischen Befehlshabers Holofernes zu befreien, indem sie sich in das Feindeslager einschleust und es schafft, dem volltrunkenen Holofernes den Kopf abzuschlagen. An sich Attribute, die sich auch im Kanon des idealen Mannes der Renaissance finden: Selbstlosigkeit und der Wille zur Selbstopferung für den größeren Zweck, Vaterlandsliebe, Mut, Entschlossenheit. Man sollte also denken, in einer Darstellung der Geschichte finden wir eine wunderschöne Judith, die triumphierend den Tyrannen Holofernes köpft.
Georg Pencz hat die Geschichte der Judith in einem kleinmeisterlichen Stich aus dem Jahre 1541 umgesetzt. Doch im Gegensatz zu der Marcus-Curtius-Darstellung findet sich hier keinerlei Verherrlichung der Heldin:
Judith findet sich in der Mitte des Stiches, den Rücken dem Betrachter zugewandt. Ein Blick auf das Gesicht der Heldin wird dem Betrachter nicht vergönnt. Judith eilt von dem Bett, in dem der enthauptete Holofernes auf der linken Seite des Stiches liegt, mit ihrer Magd davon. Beide scheinen in Eile und wollen den Tatort anscheinend, so schnell es geht, verlassen. Der Moment des Triumphes, die Enthauptung, ist schon vorüber, und die Heldin und ihre Komplizin schleichen sich wie zwei Kriminelle von der Leiche davon. Das klaffende, blutige Loch, auf dem einmal das Haupt des Holofernes gesessen hat, ist in die Richtung des Betrachters gerichtet, und die Signatur des Künstlers findet sich auf dem Schwert, der Mordwaffe. Im Gegensatz zu der Tat eines Mannes wird die Tat einer Frau nicht so glorifiziert, wobei ihr die gleichen moralischen Grundsätze zugrunde liegen, die bei einem Mann für so wertvoll erachtet werden.
Was genau setzt nun die Umsetzung des Marcus Curtius durch Georg Pencz von denen seiner zeitgenössischen Kollegen ab und macht diesen Stich zu einem der ‚Bestseller‘ unter den kleinmeisterlichen Stichen Nürnbergs?
Der Penczsche Marcus Curtius ist nicht wie bei Aldegrever lediglich ein Mittel zum Zweck einer ausladenden Aktdarstellung, wirkt nicht steif und unbeteiligt wie sein direktes italienisches Vorbild von Raimondi (siehe 3.1 Ikonographische Einordnung). Der Penczsche Marcus Curtius verbindet das Ideal des männlichen Körpers Aldegrevers und die Darstellung der edlen Tat Raimondis.
Dieser Stich versinnbildlicht das Renaissance-Ideal eines Mannes, der seine Ehre und die seines Landes mit seinem bloßen Körper schützt, und erscheint als Idealbild des Renaissance-Mannes (Schmale S. 92).
Dieser Held ist in der Blüte seiner Männlichkeit. Er ist kein Jüngling mehr und noch lange kein Greis. Sein Gesicht ist ebenmäßig und sogar seine Haarpracht versprüht Männlichkeit, denn der Backenbart war zu Zeiten des Georg Pencz hochmodisch.
Jede Muskelfaser seines wie aus Marmor gehauenen Körpers wirkt gespannt und strahlt Aktionsbereitschaft aus. Rein vom äußeren Erscheinungsbild her handelt es sich bei dem Penczschen Marcus Curtius um den perfekten Mann nach zeitgenössischer Vorstellung. Doch in diesem jungen, perfekten Körper sitzt der Geist, der den eigentlichen Helden ausmacht, den Georg Pencz in seinem Stich zu vermitteln versucht.
Zugang zu diesem Geist des Helden findet sich über ein bisher noch kaum beachtetes Detail dieses Stiches, nämlich über die Rüstung des Marcus Curtius. Im Gegensatz zu seinem italienischen Vorbild fällt die Rüstung des Marcus Curtius in diesem Stich nicht sofort prunkvoll ins Auge. Pencz reduziert den Zierrat und hat die Darstellung von Rüstungen perfektioniert (David Landau: Catalogo complete dell‘ opera grafica di Georg Pencz, Mailand 1978, S. 31). Sie erfüllen im Bild den Zweck, den sie auch in der römischen Realität haben sollten: Auf den ersten Blick sollte der Muskelpanzer wie der bloße, ungerüstete Körper des Helden wirken. Es sollte der Eindruck entstehen der Soldat ginge furchtlos und nackt in den Kampf, was beim Gegner oder in diesem Falle beim Betrachter noch zusätzlichen Respekt hervorrufen sollte.
Doch abgesehen von der Illusion eines perfekten, gestählten und unverletzbaren Körpers vermittelt die Rüstung noch viel mehr über Männlichkeit und Heldentum. Sie ist das Bindeglied zwischen der äußeren Perfektion des Helden und seinen inneren Werten.
Bei der von Pencz dargestellten Rüstung handelt es sich um eine so genannte ‚bella-figura‘-Rüstung (Springer S. 25). Diese Rüstung römischen Ursprung sollte einerseits den äußeren Eindruck des Mannes perfektionieren und aus dem weichen Fleisch einen undurchdringlichen, edlen Panzer machen, und den Körper zur Waffe. Andererseits waren mit dieser Art der Rüstung hohe Werte verbunden, die bis zur Renaissance tradiert wurden und das Männerbild beeinflussten.
Denn eine solche Rüstung war nicht die eines einfachen Soldaten. Die Rüstung allein erzählt einiges über ihren Träger. Die ‚bella-figura‘-Rüstung ist das Symbol eines Standes, jedoch nicht im klassischen Sinne, sondern sie versinnbildlicht den perfekten, entindividualisierten Elite-Mann. Der skulpturenartige Metallpanzer verdeckt das Individuum hinter ihm und projiziert automatisch ein Idealbild. Allein durch die Rüstung wird der Träger automatisch zu einer Art Held (Springer S. 30). Dass dieses Gedankengut schon fast automatisch mit dieser Rüstung verknüpft war, hat den historischen Hintergrund, dass dieser Rüstungstyp nur Soldaten der höchsten militärischen Ränge vorbehalten war.
So versinnbildlicht allein die Rüstung nahezu alles, was die Renaissance von den perfekten Männern ihrer Zeit erwartete: einen jugendlichen, harmonischen Körper, einen hohen, in diesem Falle militärischen Stand und die mit diesem Stand verbundenen ehrenhaften Prinzipien.
Doch ein edler Soldat ist noch kein Held. Zum Helden wird Marcus Curtius erst, als er das Versprechen seiner Rüstung von Edelmut und Tapferkeit durch seinen Todessprung einlöst und dadurch Rom rettet.
Genau diese Umsetzung der Idealvorstellung des Helden weiß Georg Pencz von all seinen zeitgenössischen Kollegen am intensivsten umzusetzen, durch die perfektionierte Darstellung des gerüsteten Heldenkörpers, der trotz seiner Idealität noch ein greifbares Individuum darstellt und den Betrachter nicht kalt lässt. Diesen Eindruck weiß Pencz noch durch die aufgebrachte Menschenmenge zu verstärken, in die sich der Betrachter unterbewusst mit einreiht. Wir sind betroffen von diesem mutigen Mann, dessen Schicksal auf Messers Schneide steht. Und vielleicht war es diese Unmittelbarkeit der Penczschen Marcus-Curtius-Darstellung, die das Sammlerpublikum so begeisterte.
Doch hat dieses von Pencz dargestellte Männerbild noch einen Bezug zu den Männern der Renaissance oder ist es lediglich die Darstellung eines römischen Helden, das in die Hände intellektueller Sammler gelegt wird, die weit entfernt von diesem antiquierten Männerbild eines römischen Soldaten sind?
Vielleicht konnte das von Pencz illustrierte Männerbild nicht 1:1 auf die zeitgenössischen Rezipienten bezogen werden, doch handelt es sich bei der Geschichte des Marcus Curtius um eine allegorische, und die Werte hinter dem tapferen römischen Krieger sollten auch Richtlinien für den Mann der Renaissance sein und, wenn ich mich ganz weit aus dem Fenster lehne, sind die Werte, die uns Marcus Curtius vermitteln soll, auch heute noch aktuell für Männer und für Frauen.
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Autorin: Angelina Mühl