Triebkontrolle
Herkules am Scheideweg/ Die Eifersucht
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Albrecht Dürer: Herkules am Scheideweg/ Die Eifersucht, 1498
Kupferstich, 32,5 cm x 22,3 cm, Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg.
Der Versuchung nachgeben – oder ihr widerstehen? Die Ehre bewahren – oder sich allen Leidenschaften hingeben? Unsere Sinnlichkeit beherrscht unser Denken und Handeln und will uns oftmals in Versuchung führen. Hier liegt es an uns, sie zu kontrollieren. Doch nicht nur Normalsterbliche werden vor diesen inneren Kampf gestellt – nein selbst Götter müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie das Gute und Anständige oder aber Lust und Sünde wählen. So sieht sich auch der junge Herkules, der wohl bekannteste Held Griechenlands, vor die Wahl gestellt, ob er sich für den Weg der Tugend oder aber für ein Leben voller Lust und Laster entscheidet.
In einem einzigartigen Kupferstich befasst sich Albrecht Dürer mit dem Thema von Versuchung und Standhaftigkeit und stellt den Betrachter einer dynamischen Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern vor die Frage, wer der Sünder und wer der Tugendheld ist.
Der Kupferstich auf Papier mit dem Titel „Herkules am Scheideweg“ oder auch „Die Eifersucht“ ist ein Werk Albrecht Dürers und entstand um 1498. Die Maße betragen 32,5 cm x 22,3 cm.
Nach Meder handelt es sich bei „Herkules am Scheideweg“ um einen Zustand der Kategorie II. Es scheint ein sehr früher und laut Meder auch ein vollendeter Druck zu sein, da die Qualität gut ist und die Linien scharf abgebildet sind. So ist durch einen 1-2 mm vorhandenen Restrand des Blattes die vom Künstler gezeichnete Umfassungslinie noch erkennbar. In das Blatt ist zudem ein Wasserzeichen eingeprägt (im unteren Blattdrittel) – nach Meder eine „hohe Krone“. Des Weiteren sind auf der Rückseite kleine Flecken zu sehen – möglicherweise Insektenkot. Ansonsten ist der Erhaltungszustand sehr gut. Auf der Rückseite findet sich sowohl ein handschriftlicher Besitzvermerk als auch der Stempel der Sammlung d´Arenberg, aus welcher das Blatt stammt. Dürers Monogramm ist auf der Vorderseite mittig am unteren Bildrand zu erkennen.
In der rechten unteren Bildhälfte erblickt der Betrachter eine stehende Rückenfigur, einen nackten Mann. Dieser hat die Beine weit auseinander gegrätscht und seinen Körper zur Bildmitte hin leicht gedreht, sodass sein Gesicht im Profil sichtbar wird. Die Arme hat er angewinkelt vor sich erhoben und hält in seinen Händen einen hölzernen Stab. Sämtliche Muskeln seines Körpers scheinen angespannt. Seine Kopfbedeckung besteht aus einem Blätterkranz, dessen Mitte ein Hahn ausfüllt. Seitlich sind hier kleine Hörner zu sehen. Den Mund leicht geöffnet, blickt er zur nächsten Person in der Bildmitte. Diese weibliche Figur steht leicht erhöht auf dem Wiesengrund und ist dem Betrachter frontal zugewandt. Die Arme hat sie rechts neben ihren Kopf erhoben und hält in ihren Händen einen Stock, mit dem sie zum Schlag ausholt. Bekleidet ist sie mit einem antikisierten Gewand, welches ihr nach vorne gestelltes – vom Betrachter aus rechtes – Bein freigibt. Ihr Haar ist zu einem seitlichen Knoten gebunden und wird von einem Tuch umfangen. Des Weiteren ist auf ihrer Stirn ein Schmuckband zu sehen, welches in der Mitte eine Sonne ausbildet. Den Blick hat sie auf das Figurenpaar in der unteren linken Bildhälfte gerichtet.
Zunächst zieht eine halb am Boden liegende, nackte Frau die Blicke auf sich. Ihr aufgesetzter Oberkörper ist dem Betrachter zugewandt und die Beine sind, leicht übereinander geschlagen, nach rechts unten ausgestreckt. Den Kopf, vor welchen sie schützend ihren linken Arm erhebt, hat sie nach rechts zur anderen Frau gedreht. Ihr Mund scheint wie zum Schrei geöffnet. In der Hand des erhobenen Armes hält sie einen Teil des Tuches, welches unter ihr ausgebreitet ist. Die Haare sind ähnlich wie bei der anderen Frau zu seitlichen Zöpfen geflochten und auf ihrer Stirn ist ebenfalls ein Schmuckband zu erkennen. Neben ihr, am linken Bildrand, sitzt eine weitere Gestalt. Dieser Mann hat dem Betrachter den Rücken zugewandt und blickt zur Bildmitte. Sein Unterkörper besteht aus ziegenbockähnlichen Läufen und auf seinem Kopf sind Hörner zu sehen. Es handelt sich also um einen Satyr. Den rechten Arm hat er nach unten ausgestreckt und in dessen Hand hält er einen Eselbackenknochen.
In der rechten unteren Bildhälfte, neben dem Gesäß des stehenden Mannes, befindet sich die letzte Figur der Gruppe, ein kleiner Knabe. Er ist leicht nach hinten versetzt und scheint zum rechten Bildrand zu laufen. Seinen Kopf und Oberkörper hat er nach links gedreht und die Arme vor diesem verschränkt. Um seine Taille ist ein Band gebunden, welches auf seinem Rücken eine Schleife ausbildet. In seiner linken Hand hält er einen Vogel gepackt, welcher mit dem Schnabel zu ihm zeigt und die Flügel ausgebreitet hat.
Der Hintergrund des Blattes ist durch eine Baumgruppe gestaltet, welche zu beiden Seiten den Blick auf eine Landschaft freigibt. Links ist ein Weg zu sehen, der zu einer ruinösen Stadtarchitektur führt. Rechts öffnet sich hingegen eine bergige Landschaft, wo sowohl ein Flusslauf als auch Stadtelemente zu finden sind. Die Baumgruppe selbst, in der Mitte des Blattes, besteht aus unterschiedlichen Gehölzen, welche sich über der stehenden Frau, bis zum oberen Bildrand und scheinbar darüber hinaus erheben.
Auf der Mittelsenkrechten bzw. im Bildzentrum befindet sich die stehende Frauenfigur. Ihr Oberkörper wird auf der Mittelwaagrechten von dem Stock in den erhobenen Händen der männlichen Rückenfigur gekreuzt. Des Weiteren entstehen durch den Kompositionsaufbau mehrere Bewegungsrichtungen. Zum einen entwickelt sich durch die Staffelung der Figuren und die Baumgruppe im Mittelgrund eine pyramidale Bewegung nach oben. Der Blick der stehenden Frau führt wiederum nach unten. Zum anderen erzeugt der Blick der stehenden Rückenfigur und die Drehung des Knaben eine Bewegung nach links, zur liegenden Frau. Neben den Bewegungsrichtungen finden sich auch kompositorische Beziehungen zwischen den Figuren des Blattes. So ist das sitzende Paar einander zugewandt und die Beine der sitzenden Frau berühren die Beine des stehenden Mannes. Daneben stellen dessen Arme eine Beziehung zur stehenden Frau her, deren Fuß wiederum mit einem Huf des Satyrn in Kontakt steht. Durch die Beziehungen und Bewegungsrichtungen werden die beiden weiblichen Personen hervorgehoben. Vor allem die stehende Frau wird zudem durch ihre erhöhte Position verstärkt herausgestellt. Zudem bilden die Figuren durch ihre Körperhaltungen und Blicke eine Leit- und Erzählstruktur für den Betrachter aus. Diese führt von der Rückenfigur zur stehenden Frau und von dieser zu dem Figurenpaar am Boden.
Durch eine gezielte Verteilung der Hell- und Dunkelflächen erzeugt Albrecht Dürer in „Herkules am Scheideweg“ eine Hervorhebung der Figurengruppe. So gestaltet er den Bereich vor und hinter den Figuren hell und die Baumgruppe eher dunkel, wodurch die Personen herausgestellt werden. Durch die stärker gezeichneten Linien der Körper und die hingegen feinen Striche innerhalb derselben werden die Details (wie beispielsweise die Kopfbedeckung des stehenden Mannes) besser erkennbar. Die Ausbildung der Gewänder erfolgt durch Kreuzschraffuren. Die nackten Körper und der Boden erhalten durch feine Schraffuren und gezielte Schattensetzung Plastizität. Die Bodenbeschaffenheit wird zudem durch Punkte und eine abgehackte Strichführung sowie Kreuzschraffuren modelliert. Der Horizont im Bild ist zwar hoch oben angesetzt, durch die Gestaltung der Landschaft wird jedoch die Wirkung einer weitläufigen Räumlichkeit erzielt.
Panofsky war der erste, welcher Dürers Werk von 1498 mit der Herkulessage in Verbindung brachte. Er deutete die Szenerie mit dem Teil der Sage, in welchem sich der junge Held am Scheideweg seines Lebens befindet (vgl. Mechthild Haas: Art in Transition. Albrecht Dürer. Kunst im Übergang. Kat. Ausst. Darmstadt 2016, S. 50). Herkules soll sich mit Beginn des Erwachsenenalters entscheiden, ob er seine Kräfte für das Gute oder das Böse einsetzen will. Als er sich dazu in eine einsame Gegend begibt, kommen zwei Frauengestalten auf ihn zu. Die eine ist eine Frau, deren Wesen von Adel und Anstand zeugt, rein und bescheiden nähert sie sich dem Helden – es ist die Tugend. Die zweite Frauengestalt hingegen ist wohlgenährt, hat sich geschminkt und ihre Kleidung so gewählt, dass ihre Reize bestmöglich zur Geltung kommen (vgl. Gustav Schwab: Sagen des klassischen Altertums. Mit 96 Zeichnungen von John Flaxman. Vollständige Ausgabe. Köln 2011, S. 161). Es ist die Liederlichkeit, das Laster – oder wie sie sich selbst nennt: die Glückseligkeit. Sie ist die erste, die das Wort an Herkules richtet. So preist sie ihm ein Leben an, welches angenehm und gemächlich voranschreiten soll, in welchem er sich weder um Krieg noch um sonstige Geschäfte kümmern und nie auch nur einer Versuchung widerstehen müsse (vgl. ebd.). Nachdem sie gesprochen hat, tritt die Tugend an Herkules heran. Auch sie zeigt dem Helden einen möglichen Lebensweg auf. Jedoch ist dieser nicht von Unbeschwertheit und Lust, sondern von harter Arbeit und Fleiß geprägt. Die Frauengestalten geraten alsbald in einen Streit, in dessen Mitte Herkules steht. Die Tugend weist die Liederlichkeit zurecht und offenbart dem jungen Helden abermals, dass nur ein wahrer Held, der den Weg der Tugend beschritten hat, für alle Zeiten von der Nachwelt gefeiert und von den Göttern gepriesen werden wird. Herkules entscheidet sich, nachdem beide Frauen geendet haben, letztlich für den Weg der Tugend (vgl. Schwab 2011, S. 162).
Betrachtet man den Kupferstich Dürers in Hinblick auf die Sage von Herkules am Scheideweg, so lassen sich die dargestellten Figuren benennen. Die Verkörperung des Helden Herkules ist dabei rechts in der stehenden Rückenfigur zu sehen. Sein Stock ersetzt gewissermaßen das übliche Attribut des Herkules, die Keule. Bei der Frau, welche sich in der Bildmitte befindet, handelt es sich um die Personifikation der Tugend, welche edel gekleidet ist. Sie wiederum ist der halb am Boden liegenden zweiten Frau im Werk zugewandt, die die Liederlichkeit bzw. das Laster personifiziert – zu erkennen an ihrer nackten, wohlgenährten Erscheinung und dem Satyr an ihrer Seite, welcher für Lust und sinnliches Vergnügen steht. Bei der Darstellung Dürers handelt es sich wohl um den Moment, in dem die Tugend die Liederlichkeit zurechtweist.
Allerdings fallen einige Unstimmigkeiten in Bezug auf die beschriebene Szene aus der Herkulessage auf. Zum einen werben die beiden Frauenfiguren nicht um den Helden, sind ihm noch nicht einmal zugewandt (vgl. Tobias Leuker: Dürer als ikonographischer Neuerer. Freiburg im Breisgau 2001, S. 14). Zum anderen ist die Kampfhaltung der Tugend nicht passend für ein angeblich edles und friedfertiges Wesen. Des Weiteren ist die Rolle des kleinen Knaben rechts im Bild unklar. Vor allem die Haltung des Helden, welcher sich fast schützend vor das Laster drängt, und seine seltsame Kopfbedeckung werfen Fragen auf. Diese Unstimmigkeiten führen zu weiteren Ansätzen, welche durch Ergänzungen und Uminterpretationen versuchen, das Werk Dürers zu erklären.
Einige Interpretationen sehen in Dürers Graphik den Helden als Sinnbild der Tugend an sich. Für Walter Sparn ist er eine tugendhafte Figur, welche in Dürers Werk verhindert, dass eine Gewalttat zwischen zwei anderen verübt wird (vgl. Walter Sparn: Herkules, der „Wundermann“. Mythographie und Theologie in der Dürerzeit. In: Ulrich Kuder, Dirk Luckow (Hrsg.): Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgraphik der Dürer-Zeit. Hamburg 2004, S. #-#). Wolfgang Braunfels sieht in der Figur des Herkules – unter Bezug auf Panofsky, welcher in dem nackten Herkules die Personifikation der christlichen Tugend der Tapferkeit sah – die „Fortitudo“ bzw. Stärke (vgl. Andreas Bayer: Herkules in den sakralen Kontexten vor der italienischen Renaissance. Saarbrücken 2008, S. 62). Auch Fedja Anzelewsky stellte 1983 eine Theorie zu dem Kupferstich Albrecht Dürers auf, in welcher der Herkules als ein Sinnbild tugendhaften Handelns dienen sollte – als Streitschlichter. Zum einen stelle der Vogel in der Hand des kleinen Kindes die unsterbliche Seele dar, welche den Kampf zwischen Tugend und Laster nicht länger ertrage, und zum anderen sei die ungewöhnliche Kopfbedeckung des jungen Helden – mit den Flügeln, dem Kopf eines Hahns sowie den kleinen Hörnern – als ein Symbol der Weisheit zu verstehen. Herkules fungiere somit als eine Vermittlerfigur zwischen den Konfliktparteien, die den Streit beenden solle (vgl. Leuker 2001, S. 12). Dieser Interpretation schließt sich auch Schuster an, welcher die auf den Gott Merkur verweisende Kopfbedeckung als ein Zeichen für die Intelligenz des Helden sieht (vgl. ebd., S. 14), der hier als tugendhafte und vorbildliche Person handelt.
Der Titel „Herkules am Scheideweg“ scheint aufgrund einiger Unstimmigkeiten in Bezug auf die Sage nicht vollends treffend. Aus diesem Grund erhielt das Werk den zweiten Titel „Die Eifersucht“. Entsprechend versteht Leuker den Kopfschmuck der stehenden Rückenfigur als Auszeichnung des Mannes als Hahnrei, als betrogenen Ehemann. Deshalb sei auch die keulenschwingende Frau nicht als die Tugend, sondern als Personifikation der Eifersucht zu verstehen (vgl. Leuker 2001, S. 14). Geht man nun tatsächlich davon aus, dass Herkules hier als gehörnter Ehemann präsentiert wird und die Frau im Bildzentrum die Eifersucht darstellt, gegen welche er seine Frau am Boden zu verteidigen sucht, so stellt sich die Frage, wieso er das tun sollte. Leuker sieht hierfür nur eine Erklärung: Der intelligente Held (Hahnenschmuck), welcher durch seine Abenteuer und Heldenaufgaben ständig auf Reisen war, hatte dabei zwar Sieg um Sieg errungen (Lorbeerkranz), jedoch seine ehelichen Pflichten vernachlässigt (vgl. ebd., S. 15). Als er nun heimkehrt, findet er seine Frau im Liebesspiel mit einem anderen Mann (Satyr) vor – bleibt aber trotzdem beherrscht. Der Vogel in der Hand des Knaben wird in diesem Zusammenhang als Symbol für das Liebesspiel selbst interpretiert und die Tatsache, dass er fortgebracht wird, steht laut Leuker für die Unterbrechung des Liebesakts (vgl. ebd., S. 12). In Kombination mit Elementen der bereits genannten Interpretationsstränge ergibt sich so die Deutung, dass Dürer mit seiner Graphik den Sieg der ausgleichenden Vernunft darstelle. Dies erklärt nach Leuker auch, wieso Herkules in Dürers Werk seiner rasenden Eifersucht Einhalt gebietet ( vgl. ebd., S. 16).
Dürer rezipiert in seinem Werk „Herkules am Scheideweg“ Bildmotive sowohl aus Bildern anderer Künstler als auch aus eigenen früheren Arbeiten. Wolfgang Braunfels merkt hierzu an, dass es die Absicht Dürers gewesen sein könnte, mit dem Kupferstich seine Meisterschaft in der Nachahmung römischer Kunst zu zeigen (vgl. Bayer 2008, S. 62). Das Blatt „Herkules am Scheideweg“ ist also ein Beispiel für Dürers frühe Antikenrezeption. Die verschiedenen Figuren kann er sich bei seinem Studium der italienischen Meister in Venedig angeeignet haben (vgl. Anna Scherbaum: Ercules. In: Albrecht Dürer. 80 Meisterblätter. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung Otto Schäfer. Kat. Ausst. München, London, New York 2000, S. 66). So bildet Andrea Mantegnas Kampf der Meeresgötter (um 1480) eine Inspirationsquelle. Ein weiterer Vorreiter zum Herkulesbild ist Dürers eigenes Werk Tod des Orpheus von 1494.
In dem Holzschnitt Ercules von 1496 befasste Dürer sich ebenfalls mit der Herkulesthematik. Vergleicht man nun den Herkules-Stich mit dem etwa zur selben Zeit entstanden Werk Das Meerwunder von 1498, so sieht man, dass Dürer die Körpermodellierung der Aktfiguren zunehmend verfeinert. Deshalb verwundert es nicht, dass Dürer selbst auch Anlass zur Nachahmung bot. Ein von ihm inspiriertes italienisches Werk ist beispielsweise Mars, Venus und Amor von Marcantonio Raimondi aus dem Jahr 1508.
In Dürer „Herkules am Scheideweg“ wird zum einen der Mann, in der Gestalt des Herkules, als Held präsentiert. Dieser verkörpert die Eigenschaften des Mutes, der Stärke und der Tapferkeit. Des Weiteren zeigt sich in seiner Statur, seiner Größe und seinen Muskeln die körperliche Kraft, welche er als Mann besitzt. Zum anderen wird auch in der Figur des Satyrs das kämpferische und starke Wesen des Mannes erkennbar, da er – bereit die Frau zu verteidigen – zu dem Eselskinnbackenknochen greift. Wichtiger noch als das Element der Stärke sind jedoch die Vernunft und Intelligenz, welche den Mann kennzeichnen – hier zu sehen an der Handlung des Helden, welcher sich als Beschützer und somit auch als der Vernünftigere darstellt. Während beim Mann also Intelligenz und vernünftiges, rationales Denken die Oberhand behalten, wird die Frau hingegen als ein Wesen dargestellt, bei welchem Gefühl und Gemüt vorherrschen. So wird die Frau in der Mitte des Bildes hier in einem Moment rasender Emotion gezeigt, die nur von dem Helden gestoppt werden kann (vgl. Karin Hausen: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 202). Göttingen 2012, S. 22). Zudem vermittelt die andere, am Boden liegende Frauenfigur ein Bild von Schwäche. So vermag sie sich nicht weiter zu schützen, als die Hand vor ihr Gesicht zu erheben. Auch die Körper der Frauen zeugen nicht von körperlicher Stärke, sondern von Sinnlichkeit. Die Frau scheint dem Mann, sowohl was Stärke als auch vernünftiges Denken betrifft, unterlegen. Dürer präsentiert uns also in seinem Werk „Herkules am Scheideweg“ die Frau als irrationales, gefühlsbetontes Wesen und den Mann als Geschöpf von Stärke und Weisheit.
Trotz der vielen Interpretationsansätze sieht sich der Betrachter mit einem Werk Dürers konfrontiert, in welchem letztlich nicht eindeutig formuliert ist, ob es sich bei Herkules um einen Helden handelt, welcher der Tugend zur Hilfe kommt, ob er die Rolle eines Vermittlers übernimmt oder aber ob es sich bei ihm – wie Anna Scherbaum es formuliert – um einen Maulhelden handelt, der sich auf die Seite des Lasters schlägt (vgl. Scherbaum 2000, S. 66). Dass sich die dramatische Handlung nicht gänzlich erschließt hängt wohl damit zusammen, dass die Komposition aus Einzelmotiven zusammengefügt wurde. Dürers Werke ab den Jahren 1497 bis 1498 verraten eine intensive Auseinandersetzung mit antiken Figuren (vgl. Anja Grebe: Albrecht Dürer. Künstler, Werk und Zeit. Darmstadt 2006, S. 65), weshalb es natürlich auch sein kann, dass er mit diesem Kupferstich lediglich sein Können unter Beweis stellen wollte. Auch wenn das Blatt „Herkules am Scheideweg“ in seiner Ausdeutung Schwierigkeiten bereitet und Panofskys Ansatz, es mit der Herkulessage in Verbindung zu bringen, nicht vollends belegt werden kann, so zeigt uns Dürer doch mit diesem Werk eine eindrucksvolle Auseinandersetzung der Geschlechter, in der es darum geht, Entscheidungen zu treffen und die Kontrolle zu bewahren.
Andrea Mantegna, Kampf der Meeresgötter, 1479/81
Andrea Mantegnas „Kampf der Meeresgötter“ entstand um 1479/81 in Florenz.
Betrachtet man dieses Werk genauer, so erkennt man, dass Dürer seine Laster- und Satyrgruppe für „Herkules am Scheideweg“ aus dem bei Mantegna am linken Rand befindlichen Paar entwickelt hat.
Wir sehen hier ebenfalls eine nackte Frau, welche den Arm zum Schutz ihres Gesichts erhoben hat, und einen Mann mit tierähnlichem Unterleib, der zu einer Waffe greift.
Albrecht Dürer, Tod des Orpheus, 1494
In Albrecht Dürers Werk „Tod des Orpheus“ von 1494 findet sich die Baumgruppe wieder, die auch in „Herkules am Scheideweg“ begegnet, sowie der kleine, fliehende Junge.
Des Weiteren erscheint hier das Vorbild für die Figur der Tugend, welche im „Tod des Orpheus“ spiegelverkehrt am linken Rand zu sehen ist.
Albrecht Dürer, Ercules, um 1496
Elemente aus Dürers „Ercules“, die sich später bei „Herkules am Scheideweg“ wiederfinden, sind zum einen die beiden Frauen – eine nackt, eine bekleidet, wobei eine auf die andere einzuschlagen sucht −, zum anderen der Eselsbackenknochen in der Hand der alten Frau (vgl. Scherbaum 2000, S. 40).
In diesem Werk versucht Dürer bereits die muskulöse Erscheinung des Helden herauszuarbeiten, was er in seinem „Herkules am Scheideweg“ von 1498 nicht nur durch die vollkommene Nacktheit, sondern auch durch den Stand der Figur weiterentwickelt.
Albrecht Dürer, Das Meerwunder, um 1498
In „Das Meerwunder“, entstanden 1498 – also zur selben Zeit wie „Herkules am Scheideweg“, zeigt Dürer bereits Körper, die aus dem restlichen Bild herausstechen. In diesem Fall die im Vordergrund liegend dargestellte, nackte Frau.
Vergleicht man diese mit der Personifikation des Lasters im Herkulesbild, so lässt sich feststellen, dass beim Laster der Körper, seine Muskeln und deren Beschaffenheit noch genauer dargestellt ist (vgl. Haas 2016, S. 50).
Dürer gibt die körperliche Individualität zu Gunsten einer idealisierten Schönheit auf – ein antikes Bildmuster im Stil der italienischen Renaissancekünstler (vgl. ebd., S. 48).
Marcantonio Raimondi, Mars, Venus und Amor, 1508
Marcantonio Raimondis Werk „Mars, Venus und Amor“ zeigt ebenso wie Dürers „Herkules am Scheideweg“ eine Personengruppe vor einer sich nach hinten öffnenden Landschaft und einer abgrenzenden Baumgruppe. Letztere besitzt bei beiden Werken eine zentrierende Wirkung (vgl. Thomas Schauerte: Albrecht Dürer. Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Bramsche 2003, S. 133).
Auch die kleine Knabenfigur und die Stadtarchitektur finden sich in beiden Werken wieder.
Bayer, Andreas: Herkules in den sakralen Kontexten vor der italienischen Renaissance. Saarbrücken 2008.
Grebe, Anja: Albrecht Dürer. Künstler, Werk und Zeit. Darmstadt 2006.
Haas, Mechthild: Art in Transition. Albrecht Dürer. Kunst im Übergang. Kat. Ausst. Darmstadt 2016.
Hausen, Karin: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 202). Göttingen 2012.
Leuker, Tobias: Dürer als ikonographischer Neuerer. Freiburg im Breisgau 2001.
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer. Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Bramsche 2003.
Scherbaum, Anna: Ercules. In: Albrecht Dürer. 80 Meisterblätter. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung Otto Schäfer. Kat. Ausst. München, London, New York 2000.
Schwab, Gustav: Sagen des klassischen Altertums. Mit 96 Zeichnungen von John Flaxman. Vollständige Ausgabe. Köln 2011.
Sparn, Walter: Herkules, der >>Wundermann<<. Mythographie und Theologie in der Dürerzeit. In: Ulrich Kuder, Dirk Luckow (Hrsg.): Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgraphik der Dürer-Zeit. Hamburg 2004.
Autorin: Anja Falderbaum