Der Rebell
Der Apfelschuss des Wilhelm Tell
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Hans Schäufelein, Der Apfelschuss des Wilhelm Tell, 1534
Johann von Schwarzenberg, Der Teütsch Cicero, fol. 118r., Holzschnitt, 30,3 x 21,1 cm (Bildstock 14,1 x 15,5 cm), Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg (Gr.A. 4735-2).
Freiheitskämpfer, Rebell und Schweizer Nationalheld – so kennt man Wilhelm Tell heute. Seine Erlebnisse enthalten alles, was ein spannendes Abenteuer braucht: einen Bösewicht, einen Helden, Gefahr, Rache und Mord. Doch seine Geschichte hat noch viel mehr zu bieten, das wussten schon Dürers Zeitgenossen.
In einem außergewöhnlichen Holzschnitt erzählen Johann von Schwarzenberg und Hans Schäufelein die berühmte Geschichte vom Apfelschuss. Der Gelehrte und der Künstler zeigen, wie lehrreich Tells Abenteuer sein kann – besonders für Väter, Fürsten und Rebellen.
Der Holzschnitt zum Apfelschuss des Wilhelm Tell befindet sich auf der Vorderseite eines beidseitig bedruckten Blattes. Die Seite stammt aus der Erstausgabe des Teütsch Cicero von Johann von Schwarzenberg und ist Teil des sogenannten Memorials der Tugend (siehe Kapitel 4.3 Kontextualisierung – Johann von Schwarzenberg und das Memorial der Tugend). Die Vorderseite trägt oben rechts die Seitenzahl 118 in römischen Ziffern. Da die Überschrift sich auf beide Seiten verteilt, ist über dem Apfelschuss von Memorial der Tugent nur „Tugent.“ zu lesen. Auf der Rückseite ist ein Zug von Kämpfern mit dem hölzernen trojanischen Pferd vor der Kulisse einer brennenden Stadt dargestellt. Unterhalb der Bilder befinden sich Schriftfelder mit dekorativer Rahmung. Die jeweils breiteste Stelle dieses Blattes misst 30,3 cm in der Höhe und 20,1 cm in der Breite, der Bildstock besitzt die Maße 14,1 x 15,5 cm. Das Blatt ist einigermaßen gut erhalten, weist aber Risse, Knicke und Fehlstellen an den Rändern auf. Auf der Rückseite befinden sich deutliche Stockflecken, die auf die Vorderseite durchscheinen. Die Seite wurde auf einen Papierrahmen geklebt und die Fehlstellen wurden kaschiert, um weiteres Ausreißen zu verhindern. An einigen Stellen wurde die Farbe beim Druck nicht gleichmäßig aufgetragen, so etwa am rechten Schriftdekor. Oben und am rechten Rand befinden sich außerdem leichte Farbschmierer. Außer einer Drei, die mit Bleistift unten rechts neben das Textfeld der Rückseite geschrieben wurde, gibt es keine nachträglichen Beschriftungen.
Der Holzschnitt wurde in den ersten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts von Johann von Schwarzenberg konzipiert und von Hans Schäufelein entworfen, 1534 wurde er schließlich gedruckt (Vgl. Scheel 1905, S. 314 f.). Der Holzschneider, der die Zeichnung umsetzte, bleibt unbekannt. Seit 1982 befindet sich der Druck in der Graphischen Sammlung Nürnberg, wo er die Signatur Gr.A.4735-2 trägt.
Der untere Bereich der Seite wird von der gerahmten Inschrift eingenommen, deren Dekoration sich aus Widderköpfen – links einem vollständigen Kopf, rechts einem blanken Schädel – und pflanzlichen Elementen zusammensetzt.
Schäufelein wählte für seine Darstellung den Moment, in dem Wilhelm Tell mit der Armbrust auf einen Apfel anlegt, der auf dem Kopf seines Sohnes ruht. Beobachtet werden die beiden von mehreren Männern, unter denen sich auch der Landvogt Geßler befindet. Der Apfelschuss findet außerhalb einer Stadt zwischen einigen Bäumen statt. Das Bild lässt sich sowohl von vorne nach hinten als auch von links nach rechts in jeweils drei Bereiche gliedern. Im Vordergrund rechts zielt der wie ein Landsknecht gekleidete Rebell Wilhelm Tell nach links auf seinen Sohn und wendet dabei dem Betrachter den Rücken zu. Tells Körperhaltung verrät Anspannung. Er legt noch an und der Bolzen zeigt nicht auf den Apfel, sondern auf das Gesicht des Kindes. Dieses steht im linken Vordergrund mit gebundenen Händen vor einem Baum und trägt den berühmten Apfel auf dem gesenkten Kopf. Hinter Tell befinden sich zwei weitere Männer. Einer von ihnen, dessen Kopf über Wilhelms Ellbogen erscheint, wird weitgehend verdeckt. Ganz vorne rechts steht ein Mann in knielangem Mantel und federbesetzter Kopfbedeckung, der einen Pfeil in seiner linken Hand hält und leicht vom rechten Bildrand beschnitten wird. Dabei wendet er den anderen Männern den Rücken zu und richtet den Blick auf den Jungen, wodurch er mit dem Kopf im Profil dem Betrachter fast frontal zugewandt steht.
Im Mittelgrund zwischen Vater und Sohn ist leicht links der Mittelachse der bärtige Landvogt angeordnet. Er hat sich aus der Schusslinie zurückgezogen und weist mit seiner rechten Hand auf den Knaben, während er mit der Linken seinen mit bauschigen Ärmeln versehenen Mantel vor der Brust geschlossen hält. Er trägt einen ungewöhnlichen Hut, der an einen Turban erinnert. Sein Körper ist nur oberhalb der Knie zu erkennen, da das Bodenniveau des Mittelgrundes im Vergleich zu dem des Vordergrundes abfällt. Nur deshalb kann sich der Mann rechts des Vogts mit verschränkten Armen auf dem Boden abstützen, während sein Unterkörper nicht zu sehen ist, die Gruppe befindet sich anscheinend in einer Senke. Zwei weitere Personen stehen weiter hinten und beobachten das Geschehen zwischen dem Vogt und dem Aufgestützten hindurch. Komplettiert wird die Gruppe von einem Mann mit barettähnlicher Kopfbedeckung, der einen faltenreichen Umhang trägt und mit seinem rechten Arm die Bewegung des Vogts wiederholt, während er den Blick in die entgegengesetzte Richtung wendet, sodass sein Kopf im Profil erscheint. Oberhalb dieser Männer führt im Hintergrund ein Weg zum Tor einer ummauerten Burg beziehungsweise Stadtanlage mit einem übergroßen Turmaufsatz.
In der Mitte des Vordergrundes liegt auf einem Stein ein Mantel, dahinter ein halb verdecktes Schwert. Offenbar hat Wilhelm Tell beides abgelegt, um beim Schießen mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Zwischen dem Stein und dem Mann am rechten Bildrand liegt genau auf der unteren Bildkante eine Tafel mit dem spiegelverkehrten Monogramm Schäufeleins.
Die flotten Striche der Zeichnung sind im Holzschnitt erhalten geblieben und verleihen dem Bild eine bewegte, schwungvolle Wirkung. Durch Formlinien und Helligkeiten erhält die Darstellung Volumen und Plastizität, unterschiedliche Oberflächenstrukturen lassen sich jedoch kaum ausmachen.
Die Komposition des Holzschnittes ist sehr ausgewogen. Freie und damit besonders helle Stellen sind der Himmel und der Boden in der Mitte des Vordergrundes, während der Mittelgrund und das vorderste Bodenstück dunkler erscheinen. Dadurch wechseln sich helle und dunkle Streifen von unterschiedlicher Breite ab, die sich waagerecht durchs Bild ziehen. Die Bäume links und rechts stabilisieren die Komposition. Zusammen mit der Stadt im Hintergrund kennzeichnen sie die Hauptcharaktere. Drei senkrechte Achsen zeigen also die wichtigsten Personen an: links das Kind vor dem Baum, rechts Wilhelm Tell vor dem zweiten Baum und mittig der Landvogt unterhalb der Stadt. Diese senkrechte Mittellinie wird im Vordergrund von dem Stein mit Mantel und Schwert fortgeführt.
Obwohl in der rechten Bildhälfte mehr Personen und Details dargestellt sind, liegt der Fokus links, denn Blicke, Gesten, die Armbrust und sogar die Fahne weisen zum Knaben. Dabei liegen nahezu alle Hände entlang einer waagrechten Linie, die die gebundenen Hände des Kindes betont. Tells Arme, der Bolzen sowie die Stelle zwischen Apfel und Kopf des Kindes liegen auf der waagrechten Mittelachse. Im Mittelpunkt der Komposition liegt der Hut des Landvogts, dessen Kopf zusätzlich durch dunkle Schattierungen betont wird. Die Kopfhöhen der Gruppe um Tell und seines Sohnes liegen merklich oberhalb der Köpfe Geßlers und seiner Begleiter. Die Bedeutung des Landvogts wird dadurch entgegen seines Ranges herabgesetzt, Tell und sein Kind werden hervorgehoben und erhöht.
Die Quellenlage zu Wilhelm Tell ist durchaus als dürftig zu bezeichnen und seine Existenz ist nicht belegt. Die erste schriftliche Erwähnung findet sich im sogenannten Weißen Buch von Sarnen, das um 1470 entstand. Der Chronist Aegidius Tschudi, auf den die wohl bekannteste Version der Tell-Erzählung zurückgeht, datierte in seinem um 1550 entstandenen Chronicon Helveticum die Ereignisse um den Apfelschuss auf das Jahr 1307 (vgl. Bergier, S. 15-16).
Aus den verschiedenen Erzählungen und Erwähnungen lässt sich die folgende Handlung herausarbeiten: Im Kanton Uri war ein Mann namens Geßler Landvogt und somit Stellvertreter der herrschenden Habsburger. Dieser Vogt ließ an einer Stelle, die jeder Bürger passieren musste, eine Stange errichten, auf die er einen Hut setzen ließ. Er befahl, dass jeder Vorbeikommende dem Hut Ehrerbietung zeigen müsse, als wäre der König oder Geßler selbst anwesend. Wer seinen eigenen Hut nicht ziehe und sich nicht verneige, werde hart bestraft. Um die Einhaltung dieses Gebots zu überprüfen, wurde eine Wache abgestellt. Wilhelm Tell, ein Urner Bauer, ging an dem Hut vorbei, ohne ihn ehrerbietig zu grüßen; daraufhin zeigte ihn der Wächter bei Geßler an. Tell erklärte dem Landvogt, das Ganze sei ein Versehen gewesen und werde nicht mehr vorkommen.
Geßler wusste, dass Tell ein sehr guter Armbrustschütze war und Kinder hatte. Er verlangte einen Beweis seiner Schießkunst: Tell müsse einen Apfel vom Kopf eines seiner Kinder schießen. Sollte er den Apfel nicht mit dem ersten Schuss treffen, müsse er sterben. Tell bat, man möge ihm das ersparen, denn er würde lieber sterben als auf ein geliebtes Kind zu schießen. Der Vogt blieb jedoch unerbittlich und verkündete, dass Vater und Kind sterben müssten, falls Tell sich weigere. Während also der Vogt dem Kind einen Apfel auf den Kopf legte, bereitete Tell die Armbrust vor und steckte einen zweiten Pfeil ein. Er schoss auf den Apfel, traf ihn und das Kind blieb unverletzt. Der Vogt lobte den ausgezeichneten Schuss und fragte nach dem zweiten Pfeil, den Tell bei sich hatte. Nach einigem Drängen und der Zusicherung, dass sein Leben unabhängig von der Antwort geschont werde, erklärte Wilhelm, der zweite Pfeil sei für den Vogt bestimmt gewesen, falls das Kind verletzt worden wäre. Daraufhin ließ Geßler ihn verhaften. Tell konnte auf dem Weg ins Gefängnis fliehen und erschoss kurze Zeit später den Landvogt aus dem Hinterhalt (vgl. Gruber 1965, S. 94-96; Bergier 1990, S. 15-16, 18-20).
Soweit die Sage, die bei genauerer Betrachtung nicht so eigenständig ist, wie sie auf den ersten Blick scheint. Das Apfelschussmotiv, also der Befehl, einen Apfel vom Kopf des eigenen Kindes zu schießen, findet sich tatsächlich in nordischen, insbesondere skandinavischen Erzählungen, die weit vor die Zeit um 1300 zurückreichen. Ein Teil dieser Erzählungen weiß auch von einem anschließenden Tyrannenmord (Bergier 1990, S. 81). Als Prototyp dieser Meisterschützen kann der dänische Toko gelten, der um 1200 erstmals schriftlich erwähnt wird, nämlich in den Gesta Danorum des Autors Saxo Grammaticus (vgl. Bergier 1990, S. 82). Seine Geschichte weist zahlreiche Ähnlichkeiten mit Tells Erlebnissen auf und ist vermutlich durch mündliche Überlieferung in die Schweiz gelangt. „Trotz aller historischen Fragwürdigkeit war die Sage vom Freiheitshelden Wilhelm Tell schon früh fester Bestandteil der Schweizer Volksüberlieferung. Die Forschung ist sich heute darin einig, daß sie nicht die realen Ereignisse um 1300 wiedergibt, sondern das Geschichtsbild, das sich im Lauf des 15. Jahrhunderts über die Entstehung der Eidgenossenschaft herausgebildet hatte. Im nachfolgenden 16. Jahrhundert wurde sie zum zentralen Element des eidgenössischen Selbstverständnisses und Wilhelm Tell zur Personifikation wehrhafter Freiheit.“ (Unverfehrt 2001, S. 112).
Der Text zu Wilhelm Tells Apfelschuss lautet:
Das unschuld waint / und hochmuot lacht
Hat als man schreibet / Schweitz gemacht.
Not unversehlich weg erfint /
Das zaigt die that mit disem kind.
Von dem der vatter schießen solt /
Ein Apfel als der Amptmann wolt.
Bedrang der Voegt / die leüt erschreckt /
Und ward der Schweitzer Bund erweckt
Darumb wer herscht durch forcht on lieb /
Der luog das er kein kurtzen schieb.
Die Formulierung „als man schreibet“ deutet an, dass sich Schwarzenberg auf eine schriftliche Quelle bezieht. Wie sich noch zeigen wird, ist die wahrscheinlichste Vorlage die um 1507 in Basel entstandene Chronik der Petermann Etterlin.
Dass der Schweizer Bund im Text als Folge der Willkürherrschaft des Vogtes angesprochen wird, rückt Tell in die Nähe der Eidgenossen. Dabei bleibt offen, ob die Schweizer sich gegen die habsburgische Obrigkeit stellten, weil ihnen Ähnliches geschehen ist wie Tell und seinem Kind, ob Wilhelm Tell mit den Eidgenossen bekannt war oder ob er gar als einer der ihren gilt – in den Überlieferungen finden sich hierzu unterschiedliche Angaben (vgl. Bergier 1990, S. 21).
Da es sich bei diesem Holzschnitt um eine der frühesten Darstellungen des Apfelschusses handelt, gibt es noch keine reiche Darstellungstradition, auf die sich Schäufelein und Schwarzenberg beziehen könnten. Allerdings lässt sich ein Holzschnitt finden, der so große Ähnlichkeit mit Schäufeleins Darstellung aufweist, dass er ihm wahrscheinlich als Vorlage diente. Es handelt sich um den Apfelschuss-Holzschnitt aus der Schweizer Chronik des Petermann Etterlin, der dem Meister DS zugeschrieben wird (vgl. Unverfehrt 2001, S. 112).
Die Gesamtkomposition mit Tell in einer Gruppe von Männern auf der rechten Seite und dem vor einem Baum stehenden Kind am linken Bildrand sind ebenso vergleichbar wie diverse Details. Beispielsweise lassen sich die Haltung und Kleidung des Kindes, einige weitere Kleidungsstücke, die Darstellung Wilhelm Tells als Rückenfigur und der stehende bärtige Mann am rechten Bildrand auf den älteren Holzschnitt zurückführen. Auch das faltenreiche Gewand auf dem Boden übernimmt Schäufelein in leicht abgewandelter Form, wobei er die Stichwaffe, welche auf der Darstellung in der Chronik an Tells Schwertgurt hängt, an diese Stelle überträgt. Im älteren Holzschnitt wirkt Tell durch den griffbereiten Schweizerdolch unmittelbar wehrhaft. Diese Möglichkeit von Angriff oder Verteidigung scheint in der späteren Darstellung eingeschränkt, denn Wilhelm Tell müsste die etwas abseits liegende Waffe erst vom Boden aufheben. Nichtsdestotrotz wird sie durch die prominente Position im Bildvordergrund ausgezeichnet und betont Tells grundsätzliche Wehrhaftigkeit.
Mittel- und Hintergrund unterscheiden sich bis auf die Gemeinsamkeit einer erhöht gelegenen Stadtanlage. Der Baumstumpf, der in der Chronik die Position des Kindes betont, fehlt in der jüngeren Darstellung, dafür wird der gebundene Knabe näher an den Betrachter gerückt. Insgesamt wirkt der Entwurf Schäufeleins deutlich stärker durchkomponiert als der ältere Holzschnitt. Besonders der Hintergrund und die Anordnung der Figurengruppen richtet das Augenmerk deutlich stärker auf Geßler und seine Begleiter. Wilhelm Tell bleibt bei ihm nicht anonym, sondern dreht sich soweit aus der Rückenansicht, dass der Betrachter sein markantes Profil erkennt.
Eine bemerkenswerte Abweichung stellt der Mann am rechten Bildrand dar, der sich in dieser Weise nur bei Schäufelein findet. Während Meisters DS sich an die Sage hält und Wilhelm Tell einen Pfeil im Rückenausschnitt seines Wamses tragen lässt, fügt Schäufelein den Akteuren eine weitere Figur hinzu, die keine erzählerische Grundlage hat. Doch dieser Mann ist mehr als nur ein Beobachter des Apfelschusses, er nimmt eine Mittlerrolle zwischen Betrachter und Bildgeschehen ein. Durch seine Position ist er dem Betrachter am nächsten, sein Blick leitet das Auge zum zentralen Motiv. Er hält den zweiten Pfeil in der Hand und verbirgt ihn durch seine Haltung vor Geßler. Offenbar ist er in den Plan eingeweiht und weiß, dass Geßler sterben soll, falls dem Kind etwas geschieht. Da er nicht in der Sage auftaucht, ist er eine Erfindung Schäufeleins oder Schwarzenbergs und soll die drohende Gefahr für den Landvogt betonen. Dabei wirkt er eher wie ein Erzähler oder Kommentator, der den Leser des Memorials an das Ende der Geschichte – nämlich Geßlers Tod – erinnert.
In den frühen schriftlichen Zeugnissen wird Tell – sofern seine Herkunft überhaupt näher beschrieben wird – als Bauer bezeichnet. Etterlin nennt ihn „landtmann“ (Gruber, S. 94), also war Schwarzenberg und Schäufelein dieses Detail vermutlich bekannt. Der Holzschnitt zeigt ihn jedoch in hochwertiger Kleidung, was dem niedrigen Stand nicht zu entsprechen scheint. Dies lässt sich auf verschiedene Weise erklären. Möglicherweise sahen sie ihn eher als Grundbesitzer denn als Landarbeiter. Vorstellbar ist auch, dass sie Tell durch ein ansprechendes Äußeres als moralisch integre Hauptperson des Geschehens herausstellen wollten.
Seinen Gegenpol bildet der Landvogt, der trotz gleichfalls edler Kleidung eine ganz andere Wirkung erzielt. Besonders auffällig ist Geßlers ungewöhnliche Kopfbedeckung. Angesichts der Eroberung Konstantinopels durch das osmanische Heer, das in der westlichen Welt mit großem Entsetzen aufgenommen worden war, und des schwelenden Konflikts zwischen dem Osmanischen Reich und den mitteleuropäischen Mächten, der in den 1520er Jahren in den ersten österreichischen Türkenkrieg mündete, mag die turbanartige Kopfbedeckung des Landvogts als Zeichen für seine Schlechtigkeit gedacht sein. Sie kennzeichnet ihn als unchristlich Handelnden, ähnlich wie ungewöhnliche Kopfbedeckungen in der bildenden Kunst seit jeher Andersgläubige ausweisen. Eine solche Interpretation der Kopfbedeckung scheint durchaus denkbar für einen Mann wie Schwarzenberg, der seine moralischen Grundsätze im Christentum verankerte und dem als Politiker die Spannung zwischen Ost und West sicher bewusst war. Andererseits ruft der Kopfputz auch den Hut auf der Stange in Erinnerung, der die ganze Geschichte ins Rollen gebracht hatte.
Das Motiv der vor dem Körper gebundenen Hände erinnert an Märtyrer- oder Passionsdarstellungen, in Verbindung mit der Schusswaffe vor allem an das Martyrium des heiligen Sebastian. Dieser wird häufig an einen Baum gefesselt dargestellt, während seine Mörder ihn mit Bögen oder Armbrüsten bedrohen. Anders als Wilhelm Tells Sohn kann er jedoch seinem Schicksal nicht entrinnen und wird von zahlreichen Pfeilen durchbohrt.
Die grundsätzliche soziale Struktur des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit war das Patriarchat, in dem die Frau dem Mann untergeordnet war (vgl. Schmidt 1998, S. 213; vgl. Wunder 2002, S. 21-23). „Dabei galt die Haushaltung unter der göttlich begründeten Herrschaft und Führung des patriarchalischen ‚Hausvaters‘ als Grundmodell der ständischen Ordnung. Der ‚pater familias‘ hatte eine Position umfassender Macht inne, war zugleich aber auch verpflichtet, für das Wohlergehen der ihm Beigeordneten Sorge zu tragen.“ (Martschukat und Stieglitz 2005, S. 109). Innerhalb der sozialen Hierarchie nahm der Fürst die Rolle des Vaters ein und hatte somit die Pflicht, seine Machtposition fürsorglich zum Wohle seiner Untergebenen zu nutzen.
Ebenfalls ausschlaggebend für das gesellschaftliche Gefüge und entscheidend für die Stellung eines Mannes war seine Ehre. „Sehr viel mehr als heute waren in der Frühen Neuzeit bestimmte Ausprägungen von Männlichkeit an die jeweilige Lebensphase (Lebensalter) und an den gesellschaftlichen Stand gebunden. Männlichkeit wurde dabei über die spezifischen Elemente von Ehre, die den betreffenden Stand und die betreffende Lebensphase kennzeichnen, definiert.“ (Schmale 2003, S. 91). Für die Erhaltung von Ehre und Männlichkeit war also keineswegs nur wichtig, was man tat, sondern vor allem wer es wie tat. Denn: „Die Ehre eines Adligen und noch mehr eines Fürsten unterscheidet sich deutlich von der Ehre des Bauern oder Bürgers.“ (ebd.). Jede soziale Gruppe hatte eigene Anforderungen, Ideale und Vorbilder (vgl. Wunder 2002, S. 24). „[Es] gilt grundsätzlich, dass die jeweiligen Kontext-Gesellschaften (Dorf, Zunft, Bürger einer Stadt, Hof etc.) selber Grenzen setzten, die mit juristischen oder theologischen Grenzsetzungen nicht unmittelbar übereinstimmen mussten.“ (Schmale 2003, S. 91). Dabei war die Stellung mit ihren Pflichten und Rechten auch eng an das Alter geknüpft. Gemeinschaftliche rebellische Akte wurden allgemein toleriert, solange sie von jungen Männern ausgeübt wurden, ein erwachsener Hausvorstand hingegen durfte sich an derartigen Unternehmungen keinesfalls beteiligen (ebd.).
Vor dem Hintergrund dieser Informationen lässt sich das Verhalten von Wilhelm Tell und Landvogt Geßler tiefergehend betrachten. Für Geßler, der als Landvogt die Rolle des Fürsten einnimmt, gilt ein anderer Ehrbegriff als für den Bauern Wilhelm Tell. Dieser Unterschied führt letztlich zur Katastrophe. Beide geraten im Lauf der Erzählung in Ehren- und Gewissenskonflikte, beide verletzen die Ehre des jeweils anderen.
Seit jeher wurden Statuen oder andere Bildwerke genutzt, um die Präsenz von Gottheiten oder Herrschern anzuzeigen. Zwar ist ein Hut, der auf eine Stange gesetzt wird, ein äußerst merkwürdiges Repräsentationsmedium, doch das Prinzip ist durchaus gängig. Da Geßler der Stellvertreter des Königs ist, steht sein Hut indirekt für den König selbst. In der Konsequenz heißt das: Wer den Hut nicht ehrt, verhält sich dem Herrscher gegenüber ungehörig. Grundsätzlich ist es also nur richtig, dass Geßler denjenigen zur Rechenschaft zieht, der ihn und seinen König missachtet hat. Aus Tells Sicht hingegen ist der Hut ein lebloses Objekt und Symbol für die Unterdrückung durch die Habsburger. Die Ehrerbietung vor diesem Gegenstand wäre eine Kränkung seines Nationalstolzes und seiner persönlichen Ehre. Diese steht im Konflikt mit seiner sozialen Ehre, da er der Obrigkeit Gehorsam schuldet. Obwohl die Folgen einer Missachtung des Huts bekannt sind, entscheidet sich Tell für seinen Stolz und gefährdet damit nicht nur sich selbst, sondern auch seine Familie. Als Rebell gegen das festgesetzte gesellschaftliche Gefüge macht er sich angreifbar und widersetzt sich den allgemeinen Erwartungen an ein Familienoberhaupt.
Geßler wiederum reagiert auf diese Rebellion in seiner Stellung als Kläger und Richter mit einem unangemessenen Urteil. Es zeugt von ungerechtfertigter Grausamkeit, dass er Tell zwingt, neben seinem eigenen Leben auch das seines Kindes unmittelbar zu gefährden. Vater-Kind-Beziehungen waren in der Frühen Neuzeit sehr vielschichtig: häufig problematisch, von Strenge und Distanz geprägt, zugleich aber auch intensiv und von gegenseitiger Abhängigkeit gekennzeichnet (vgl. Lenzen 1991, S. 153-157). Schließlich musste das Kind zwar versorgt werden und gehorchen, doch es machte durch seine Existenz den Mann erst zum Familienvater und war häufig für die Altersversorgung zuständig. Nicht zuletzt bestand trotz allem eine emotionale Bindung zwischen Vater und Kind, die sicher häufig innig und liebevoll war. In der Apfelschuss-Erzählung bringt der Landvogt nun Wilhelm Tell dazu, sein eigenes Fleisch und Blut zu bedrohen und schlimmstenfalls vor seinem Tod zum Kindsmörder zu werden. Damit verstößt Geßler gegen seine Fürsorgepflicht und verhält sich unehrenhaft. Sobald nämlich der Patriarch willkürlich ungerecht handelt und seine Pflichten als sorgender Schutzherr verletzt, verliert er seine Berechtigung und wird zum Tyrannen (vgl. Schmidt 1998, S. 215).
Die unschuldige Opferrolle des Kindes rief in einer vom Christentum geprägten Gesellschaft vermutlich Erinnerungen an die alttestamentliche Opferung Isaaks wach. Wie Wilhelms Kind sollte auch Isaak geopfert werden, um den Gehorsam des Vaters zu prüfen (vgl. Gen 22, 1-19). Während Gott allerdings im letzten Moment eingreift und verhindert, dass Abraham seinem Sohn Schaden zufügt, zeigt Geßler keine Gnade und das Kind überlebt nur dank der Schießkünste seines Vaters.
Als der Apfelschuss gelingt, scheint der Konflikt zunächst beigelegt und die Gefahr gebannt, doch schon beginnt eine zweite unheilvolle Entwicklung. Tell beichtet, er habe vorgehabt, den Vogt notfalls zu töten, woraufhin dieser Tell verhaften lässt, um ihn einzusperren und eventuelle Rachetaten zu verhindern. Als Tell auf dem Weg ins Gefängnis die Flucht gelingt, beschließt er, dem Ganzen endgültig ein Ende zu machen. Anders als der römische Held Marcus Curtius handelt Tell nicht selbstlos allein zum Wohle anderer; dennoch hat sein persönlicher Racheakt zur Folge, dass auch andere nie mehr unter der Willkürherrschaft des Landvogtes zu leiden haben. Dies gilt seit jeher als Rechtfertigung für die Tötung Geßlers, denn wenn überhaupt ein Mord akzeptiert oder gar befürwortet wird, so ist es der Tyrannenmord.
Um Schäufeleins Holzschnitt zum Apfelschuss des Wilhelm Tell zu verstehen, muss man sich bewusst machen, in welchem Kontext er angefertigt wurde. Er ist nicht als Einzelblatt konzipiert, sondern als Teil einer Schrift mit dem Titel Memorial der Tugend, die zwischen 1510 und 1520 entstand (vgl. Hamm 2015, S. 269), jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht gedruckt wurde. Autor dieses Werks war Freiherr Johann von Schwarzenberg und Hohenlandsberg, der von 1463 bis 1528 lebte. Dieser stammte aus einer fränkischen Adelsfamilie und war zunächst an verschiedenen Fürstenhöfen und für den Würzburger Bischof tätig, bevor er ab ungefähr 1501 am Bamberger Bischofshof diente, wo er auch Hofmeister wurde (vgl. Bonorand 1978, S. 94; vgl. Scheel 1905, S.23). Das Hofmeisteramt brachte vielfältige Aufgaben mit sich. So war Schwarzenberg unter anderem Ratgeber, Abgesandter und geschäftlicher Stellvertreter des Bischofs; besonders umfangreich waren jedoch seine rechtspflegerischen Tätigkeiten (vgl. Scheel 1905, S. 29-32). Seine Hauptaufgabe war das Amt als „Vorsitzender des Hofgerichts“ (Scheel 1905, S. 32), daneben war er auch in vielen kleineren Gerichtsverhandlungen als Richter tätig. Seine Stellung als Diplomat und Jurist machte ihn zu einer einflussreichen Persönlichkeit des frühen 16. Jahrhunderts. So gab er beispielsweise 1507 das erste deutsche Strafgesetzbuch heraus, die Bambergische Halsgerichtsordnung (vgl. Hamm 2015, S. 253; vgl. Scheel 1905, S. 167).
Heute verbindet man den Begriff „Hofmeister“ häufig mit dem Amt des „Prinzenhofmeisters“. Die Prinzenhofmeister waren zuständig für die Erziehung und die sittliche Bildung der jungen Adligen, sie hatten dafür zu sorgen, dass die Fürstensöhne zu moralischen, ehrenvollen Männern heranwuchsen (vgl. Seeliger 1885, S. 45). Zwar findet sich im Falle Schwarzenbergs kein Beleg für eine derartige Aufgabe, doch der Freiherr hatte sicher pädagogische Ambitionen und wollte mit seinen schriftlichen Werken auch lehren und erziehen. Er verfasste reformatorische Schriften, „moralisch-satirische Dichtungen in deutscher Sprache“ (Hamm 2015, S. 253) und fertigte stilistische Überarbeitungen von Cicero-Übersetzungen an.
Der Teütsche Cicero, der auch den hier besprochenen Holzschnitt beinhaltet, setzt sich aus mehreren Cicero-Übersetzungen und eigenen Dichtungen Schwarzenbergs zusammen. Das Werk wurde 1534 – also einige Jahre nach dem Tod des Freiherrn – von einem unbekannten Herausgeber zusammengestellt und in Augsburg bei Steiner verlegt (vgl. Hamm 2015, S. 253). Bereits 1535 erschien die zweite Ausgabe. Dass es sich bei dem besprochenen Holzschnitt um eine Seite aus der Erstausgabe handelt, zeigt der Vergleich: Der spätere Druck weist eine andere Seitenzählung, einen anderen Rahmen um das Textfeld und kleine Veränderungen am Bildstock auf.
Das Memorial der Tugend gilt als ein Hauptwerk Johann von Schwarzenbergs und dient der Schulung von Moral und ethischem Verhalten. Im Memorial wird je ein Beispiel für moralisches und unmoralisches Verhalten gegenübergestellt, wobei sich diese nicht unmittelbar aufeinander beziehen müssen. Häufig sind sie assoziativ verknüpft. Die Vorlagen und Maßstäbe für richtiges beziehungsweise falsches Verhalten bezieht der Verfasser aus der Bibel, antiken Erzählungen und dem Volksmund.
Der Leser soll anhand von Beispielen lernen, moralisches Verhalten zu erkennen und sich ebendieses anzueignen. Dazu werden Bild und Text verbunden, um die Wirkung zu steigern und das Erinnern zu erleichtern. Die Bilder wurden nicht nachträglich als Illustrationen eingefügt, sondern waren von Beginn an Teil des Konzepts und wurden in engem Austausch – oder zumindest nach den Angaben des Autors – angefertigt. Schwarzenberg war also nicht nur Auftraggeber, sondern nahm Einfluss auf die Bildkonzeption.
Eine ähnlich enge Beziehung zwischen Text und Bild, wie sie das Memorial der Tugend kennzeichnet, findet sich auch in Werken wie Sebastian Brants Narrenschiff oder dem Theuerdank und ist Teil der Entwicklung, die wenig später Emblembücher wie das des Andreas Alciatus hervorbringt. 41 der insgesamt 100 Holzschnitte des Memorials stammen von Hans Schäufelein, der sich bereits zuvor als Zeichner für Holzschnitte hervorgetan hatte, die übrigen entwarf Jörg Breu der Ältere. Im Vergleich lässt sich feststellen, dass die Schnitte nach Schäufelein lockerer, weicher und spontaner wirken als diejenigen nach Breus Vorlagen.
Dem Apfelschuss wird im Memorial der Tugend das Jüngste Gericht gegenübergestellt, das daran gemahnt, jederzeit tugendhaft und fromm zu leben. Wer nicht nach dem göttlichen Willen handelt, wird dafür bestraft. Gott gilt hier selbstverständlich als der unfehlbare und wahrhaft gerechte Richter, dem steht folglich ein Beispiel für Ungerechtigkeit gegenüber. In den Versen zum Apfelschuss wird ausdrücklich vor liebloser Schreckensherrschaft gewarnt, da sie Revolution und Aufstand provoziert. Diese Gegenüberstellung der Bilder und Texte macht deutlich, dass weniger Tells Verhalten bewertet wird als vielmehr das des Landvogtes, der seine Stellung missbraucht und mutwillig Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Der Leser des Memorials soll sich also an Gott als gerechtem Richter orientieren und nicht an Geßler, der ein unangemessenes Urteil fällt und damit seine Ehre einbüßt. Mehr noch: den Landvogt – und jeden, der sich ähnlich unmoralisch verhält – erwartet beim Jüngsten Gericht die Strafe Gottes und die Verdammung durch den wahren Richter.
Wilhelm Tell wird hier – nicht zuletzt durch seine Position im Bild, die ihn im wahrsten Sinne des Wortes über Geßler erhaben zeigt – in einer Vorbildrolle als mutiger Rebell gezeigt, der sich der Willkür der Obrigkeit widersetzt. Der Mord an Geßler, der zweifelsohne als Sünde gelten muss, wird im Bild nicht dargestellt und nur indirekt angesprochen. Ob der Zweck die Mittel heiligt und Tell daher im Jüngsten Gericht begnadigt werden kann, bleibt offen.
Johann von Schwarzenberg ließ seine Erfahrung als Diplomat und Jurist sowie seine eigenen ethischen Vorstellungen in das Memorial der Tugend einfließen. Hans Schäufelein wiederum war in der Lage, die moralischen Ansprüche Schwarzenbergs in einem eindrücklichen Bild einzufangen. Der Holzschnitt ist ein Warn- und Lehrbild, dessen Bedeutung und Wirkung sich nicht aus dem Bild alleine entfalten, sondern erst, wenn man es gemeinsam mit anderen Darstellungen und Texten des Memorials der Tugend betrachtet. Dann allerdings kann es der Schulung von Moral und Gerechtigkeit dienen und regt den Betrachter zum Nachdenken über Tugend, Männlichkeit und Ehre an.
Hans Schäufelein, Das hölzerne Pferd, 1534
Dieser Holzschnitt befindet sich auf der Rückseite der Apfelschuss-Darstellung. Er zeigt einen Zug von Soldaten in Landsknechtstracht, die aus dem lichterloh brennenden Troja ziehen. Dabei führen sie das von einem Pferdegespann gezogene hölzerne Pferd mit sich, durch das die griechischen Kämpfer den Untergang Trojas herbeigeführt hatten. Im beigefügten Text nennt Schwarzenberg die weiblichen Reize als gefährlichen Auslöser für Krieg, wie auch Helenas Schönheit Paris betörte und damit den Konflikt zwischen Griechen und Trojanern ins Rollen gebracht hatte. Die Inschrift lautet:
Als Paris etwo mit der that/
Die schön Helenam geraubet hat.
Auß Griechenland mit trug vnd list/
Derhalb groß krieg entstanden ist.
Und wards Troianisch heer zerstört/
Der weiber lieb/ hat vil bedört.
Während der Text das Bild erläutert, erleichtert die dramatische Darstellung das Einprägen des Beispiels. Dadurch soll der Betrachter und Leser moralisches Handeln erlernen – das ist das Ziel des Memorials der Tugend (siehe „4. Kontextualisierung – Johann von Schwarzenberg und das Memorial der Tugend“).
Meister DS, Der Apfelschuss, 1507
Dieser Holzschnitt gilt als früheste Verbildlichung der Tell-Legende. Mehrere Übereinstimmungen – darunter der Mantel im Vordergrund und die Darstellung des Kindes – legen nahe, dass Schäufelein ihn gesehen hatte, ehe er seine eigene Zeichnung des Apfelschusses anfertigte (siehe „3. Erläuterung des Bildgegenstandes – Zur Darstellungstradition“). Die Chronik, die den Holzschnitt enthält, ist außerdem eine wichtige Quelle für die Sage um Wilhelm Tell (siehe „3. Erläuterung des Bildgegenstandes – Wilhelm Tell und die Sage vom Apfelschuss“).
Hausbuchmeister, Der Heilige Sebastian mit Schützen, 1475/80
Der heilige Sebastian gilt unter anderem als Schutzpatron der Armbrustschützen. Der Legende nach war er römischer Soldat, der wegen seines christlichen Glaubens zum Tod durch Erschießen verurteilt wurde. Wunderbarerweise überlebte er seine zahlreichen Pfeilwunden und wurde schließlich im Circus getötet. Häufig wird er an einen Baum gefesselt dargestellt. Seine Haltung in dieser Graphik des Hausbuchmeisters ähnelt wegen der vor dem Körper gebunden Händen und dem gesenkten Kopf der Haltung des Kindes in Schäufeleins Apfelschuss-Holzschnitt (siehe „3. Erläuterung des Bildgegenstandes – Zur Darstellungstradition“).
Jörg Breu d. Ä. (?), Porträt Johanns von Schwarzenberg, 1534
Dieses Porträt des Gelehrten Johann von Schwarzenberg (siehe „4. Kontextualisierung – Johann von Schwarzenberg und das Memorial der Tugend“) wurde angeblich nach einer Zeichnung von Albrecht Dürer angefertigt. Es wurde nach dem Tod des Freiherrn im „Teütsch Cicero“ veröffentlicht. Die Inschrift nennt das Sterbejahr 1528 und enthält den Aufruf, für die Verstorbenen der Familie Schwarzenbergs zu beten.
Hans Schäufelein, Der Apfelschuss der Wilhelm Tell, 1535
Für die Ausgabe von 1535 wurden die Druckstöcke der Erstausgabe (siehe „4. Kontextualisierung – Johann von Schwarzenberg und das Memorial der Tugend“) verwendet, dennoch lassen sich einige Unterschiede zur älteren Auflage feststellen. Der Holzschnitt zur Apfelschuss-Sage (siehe „3. Erläuterung des Bildgegenstandes – Wilhelm Tell und die Sage vom Apfelschuss“) befindet sich hier auf fol. 116r statt auf fol. 118r, die Seitenzählung wurde also leicht abgeändert. Außerdem hat das Textfeld einen anderen Rahmen erhalten und der große Turmaufsatz mit der Fahne fehlt.
Unbekannter Künstler, Von Gytigkeit, 1494
Wie Johann von Schwarzenberg in seinem Memorial der Tugend (siehe „4. Kontextualisierung – Johann von Schwarzenberg und das Memorial der Tugend“) erzeugt Sebastian Brant im Narrenschiff einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Texten und Bildern. Dieses Phänomen lässt sich durch das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit hindurch beobachten und gipfelt in der Emblematik (siehe Vergleichsabbildung 7). Der satirische Humor ist im Narrenschiff deutlich ausgeprägter als im Memorial.
Jörg Breu d. Ä., Drei Embleme, 1531
Das Emblematum Liber ist das bedeutendste Werk des italienischen Humanisten Andreas Alciatus und wurde in zahlreichen Ausgaben in verschiedenen Sprachen gedruckt. An der Augsburger Ausgabe war Jörg Breu der Ältere beteiligt, der auch zahlreiche Bilder zum Memorial der Tugend (siehe „4. Kontextualisierung – Johann von Schwarzenberg und das Memorial der Tugend“) beisteuerte. Besonders wichtig für die Emblematik ist der enge Bezug zwischen Text und Bild, der in ähnlicher Weise auch das Memorial auszeichnet.
Jörg Breu d. Ä., Die falsche Ehe, 1534
Der Großteil der Holzschnitte aus dem Memorial der Tugend (siehe „4. Kontextualisierung – Johann von Schwarzenberg und das Memorial der Tugend“) wurde nach Entwürfen des Augsburger Malers und Zeichners Jörg Breu des Älteren (um 1475/80 – 1537) angefertigt. Seine Entwürfe zeichnen sich vor allem durch feine Parallelschraffuren aus. Im Vergleich wirken seine Darstellungen etwas spröder als die Schäufeleins.
Hans Schäufelein, Das Jüngste Gericht, 1534
Das „Jüngste Gericht” befindet sich auf der dem Apfelschuss gegenüberliegenden Seite im Memorial der Tugend (siehe „5. Interpretation des Werkes“).
Über einer Wolkenbank, die die obere Bildhälfte als himmlische Sphäre kennzeichnet, thront Christus als Weltenrichter auf einem Regenbogen, die Weltkugel zu seinen Füßen. Zum Klang der Posaunen, die die Engel links und rechts blasen, erheben sich die Toten aus ihren Gräbern.
Christus teilt die Auferstehenden in Gerechte und Verdammte. Das Schwert und die Lilie an den Seiten seines Kopfes verdeutlichen Gericht und Gnade.
Der Text zwischen Überschrift und Holzschnitt lautet:
Bedencken stäts die letzten zeit/
Macht fliehen von den sünden weyt.
Ir benedeyten kompt zuo mir/ Ir maledeyten von mir went/
Die mein in nötten tröstet jr. Die mein ließt jr on hilff ellent.
Unterhalb des Bildfeldes steht folgende Inschrift:
Im thal der zäher seuffzen wir/
O herre got / gar offt zuo dir.
Der winter ist nunmals vonhin/
Aug / ohr / vnd hertz / gebriefet nie/
Was frewd wir jetzt befinden hie.
Was nutzt vns nu groß vbermuot/
Fleischliche lieb / vnd böses guot.
Solches ist vergangen als der schat/
Ewige pein ist vnser stat.
Und die wir haben gantz veracht/
Sein jetzund kinder Gots gemacht.
Erst in Verbindung mit dem Jüngsten Gericht entfaltet der Apfelschuss-Holzschnitt seine volle inhaltliche Wirkung (siehe „4. Kontextualisierung – Johann von Schwarzenberg und das Memorial der Tugend“). Die beiden Holzschnitte dienen als positives und negatives Beispiel für das Verhalten eines Richters. Der Leser und Betrachter kann einen Vergleich ziehen und Gott als gerechten, Geßler als ungerechten Richter erkennen. Ziel der Gegenüberstellung ist es, moralisches Handeln zu lehren und zu fördern, indem die Konsequenzen der schlechten Taten vor Augen geführt werden.
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Autorin: Susanne Wagner