Androgynie
Roma
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Hieronymus Hopfer nach Meister IB mit dem Vogel: Roma, 1525 – 1550
22,4 x 16 cm, Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg.
Androgynie – das Weibliche und Männliche in einem Wesen vereint – ist kein Thema, das erst seit der Neuzeit die Menschen interessiert und zu Fantasien anregt. Sie schon seit Tausenden von Jahren Bestandteil zahlreicher Weltentstehungslegenden. Androgynie steht somit im Kontext des Ursprungs und symbolisiert die Vollkommenheit und Kraft, die nur durch die Verschmelzung zweier entgegengesetzter Prinzipien entstehen können (Vgl. Raehs, Andrea: Zur Ikonographie des Hermaphroditen. Begriff und Problem von Hermaphroditismus und Androgynie in der Kunst. Phil. Diss. Aachen 1987. S. 30-34).
Im Hieronymus Hopfers Darstellung der Roma wird eben diese Vereinigung von weiblichen und männlichen Tugenden präsentiert, die Rom zur Stärke verhelfen.
Die hochrechteckige Radierung auf Papier mit dem Titel „Roma“ von Hieronymus Hopfer hat die Maße 22,4 x 16 cm. Das Werk wird zwischen 1525 und 1550 datiert. Der Entstehungsort kann nicht mit Sicherheit genannt werden, wahrscheinlich ist aber Augsburg oder Nürnberg.
Der Zustand des Werkes ist mäßig. So ist die Farbe an einigen Stellen verblasst. Das Fehlen von Farbe verweist darauf, dass die Platte sehr oft zum Anfertigen von Kopien benutzt wurde. Das Papier hat einen gelblichen Ton angenommen. Zudem ist eine horizontale Faltlinie ungefähr auf mittlerer Höhe zu erkennen.
Roma sitzt auf einem römischen Muskelpanzer. Um sie herum liegt allerlei Kriegsrat. Ihr Gesicht ist ins Profil gewendet und ihre Mimik wirkt entspannt und freundlich. Ihre Nase ist lang und gerade, während ihr Kinn mit markantem Schwung nach vorne tritt. Auf ihrem Kopf trägt sie einen Helm, dessen Helmbusch von einer Sphinx getragen wird. Auf dem Helm selbst ist ein Relief abgebildet, das die Entführung einer Frau durch einen Zentauren zeigt. Auf der Wangenklappe ist ein Skorpion abgebildet. Das hochgeklappte Visier ist in der Form eines ernst dreinschauenden Gesichts ausgearbeitet. Unterhalb des Helmes locken sich Romas Haare und fallen grazil auf ihre Schultern.
Roma sitzt und ihr Körper ist dem Betrachter halbseitig zugewandt. Sie ist in eine Tunika gekleidet, die am Bauch durch einen schmalen Gürtel zusammengerafft wird. An der rechten Schulter ist der Stoff geknotet, die linke Schulter und Brust sind dagegen entblößt, was den Blick auf einen muskulösen Oberkörper und eine kleine, kaum schattierte Brust zulässt. Der untere Teil der Tunika ist im Bereich der Schenkel und der Scham stark zusammengerafft und mutet wie eine Hose an. An den Füßen trägt Roma hohe römische Sandalen, sogenannte Caligae. Der linke Schuh wird unterhalb des Knies durch einen Löwenkopf geschmückt, der rechte durch einen Menschenkopf.
Unter Roma und zu ihren Füßen findet sich eine Fülle an Kriegsgut, darunter zwei römische Muskelpanzer sowie mehrere Schilde. Auf einem Schild hinter ihr ist das Hoheitszeichen Roms, S.P.Q.R. (Senatus populusque Romanus), eingraviert. Der Schild vor ihr zeigt eine Wölfin mit zwei Säuglingen.
Mit ihrer linken Hand greift Roma nach dem Schwertgriff des an ihrer linken Seite hängenden Schwertes. Der Knauf ist mit einem Adlerkopf geziert. Die rechte Hand hält sie halb ausgestreckt von sich. Ihre Arme sind muskulös und wirken angespannt. Die rechte Handfläche zeigt nach oben; darauf steht die Statue der Siegesgöttin Victoria, die ungefähr die Größe des Oberkörpers der Personifikation hat. Romas Blick ruht auf der Figurine der Siegesgöttin, die mit ihrer linken Hand einen Lorbeerkranz emporstreckt. In der anderen Hand hält sie den Zweig einer Siegespalme und eine Feder, die beinahe so groß ist wie sie selbst. Victoria ist in eine Tunika gekleidet, die zweifach an Bauch und Hüfte zusammengerafft ist. Der untere Bereich des Stoffes scheint durch starken Wind bewegt zu werden und wirft deshalb starke Falten. Dabei wird der Blick auf ihr rechtes Bein frei und eine schreitende Bewegung kann wahrgenommen werden. Ihr Körper wirkt erheblich weicher und femininer als derjenige Romas. Die dunklen Schattierungen betonen die Muskeln Romas, während der starke Hell-Dunkel-Kontrast ihrem Körper zusätzliche Kantigkeit verleiht.
Hinter der Personifikation Roms steht ein knorriger, blattloser Baum. Dahinter ist schräg ein Triumphbogen positioniert, der mit floralen Ornamenten geschmückt ist. Am unteren Rand mittig ist in Großbuchstaben Roma eingraviert. In der unteren linken Ecke des Blattes findet sich schließlich das Monogramm Hieronymus Hopfers, I H mit einem Hopfenstock.
Die Komposition wirkt durch die ausgewogene Hell-Dunkel-Verteilung sowie durch die unaufgeregte Linienführung harmonisch und in sich geschlossen, aufgrund mangelnder Bewegungslinien jedoch auch starr. Lediglich das umherliegende Kriegsgut und die Tunika Victorias sorgen für eine Auflockerung der Szene.
Im oberen Drittel der Mittelsenkrechten findet sich Romas Kopf. Parallel zu dieser Senkrechten schließen sich die Statuette der Victoria, die Säulen des Bogens und der kahle Baum an. Auf der mittelwaagrechten Kompositionslinie verläuft der Horizont. Der rechte Schenkel Romas greift diese Linie auf und wiederholt sie. Die Hauptdiagonale, die von links unten nach rechts oben verläuft, folgt dem Körper der Roma über das beinahe ausgestreckte linke Bein, die Brust und den geneigten Kopf mit Helm und endet schließlich in einem Ast des Baumes. Die meisten diagonalen Linien, wie das Schwert Romas, ihr Visier, sowie ihr rechter Unterschenkel, weisen auf Victoria und machen sie zur Zweitakteurin der Szene. Roma wird jedoch durch den Triumphbogen besonders betont, denn dieser bildet eine Binnenrahmung. Das Innere des Bogens hebt das weiße, kaum schattierte Gesicht der Personifikation hervor, wodurch ihre markanten Gesichtszüge besonders deutlich sichtbar werden und den Blick des Betrachters an sich heften.
Die Kontrastverteilung ist ausgewogen. So ist die große helle Fläche im oberen Bereich des Drucks durch die dunkle Figur der Figurine Victorias aufgebrochen, während der dunkle Bereich der rechten Ecke durch einen hellen Panzer konterkariert wird. Dadurch kann keine kippende oder aufgeregte Wirkung entstehen, die den Blick des Betrachters in Unruhe versetzt.
Die Personifikation von Völkern und Städten hat eine lange Tradition. Sie soll abstrakte Ideen bzw. Werte greifbar machen. Die Personifikation Roma wurde in Griechenland bereits um das Jahr 200 v. Chr. verehrt und ist die vergöttlichte Verkörperung der Macht Roms. Sie wurde von den Griechen erfunden, als diese sich der steigenden Macht des römischen Reiches bewusst wurden, und war zunächst die Versinnbildlichung des populus Romanus, des römischen Volkes. Dabei waren die ihr zur Seite gestellten Attribute von anderen Göttern entliehen, da man bei der Roma, die eine Neuschöpfung war, auf keinen Mythos zurückgreifen konnte (Vgl. Mello 1975, S. 195-199).
Erst durch Kaiser Augustus (63. v. Chr. – 14 n. Chr.) gelangte die Figur der Roma nach Rom, wo sie in den Kaiserkult eingebunden wurde und diesen mit der Zeit sogar an Wichtigkeit überbot. Sie wurde auf die Rückseiten von Silbermünzen geprägt, um durch deren Verbreitung Inhalte und Botschaften zu vermitteln (Vgl. Bühl, Gudrun: Constantinopolis und Roma. Städtepersonifikationen der Spätantike. Kilchberg, Zürich 1995, S. 61). Das Kriegsgut, der Triumphbogen im Hintergrund, sowie die Siegesgöttin Victoria zeugen von der militärischen Macht und der siegreichen Kriegführung Roms.
Ein Schild mit einer Wölfin und den Zwillingen Romulus und Remus sowie das Hoheitszeichen Roms S.P.Q.R. (dt. „Senat und Volk von Rom“) sind Symbole für die Stadt Rom selbst und verweisen auf ihre mythischen Ursprünge (Vgl.: Gessert, Genevieve S.: A giran corrupt body. In: Receptions of Antiquity. Constructions of Gender in European Art. 1300-1600. Leiden 2015, S. 98-127. S. 117).
Der Legende nach wurden die Zwillinge des Mars und der Priesterin Rhea Silvia am Ufer des Tiber ausgesetzt. Eine Wölfin fand die Kinder und säugte sie, bis diese vom Hirten Faustulus aufgenommen wurden (Vgl. Michael Grant: Mythen der Griechen und Römer. Zürich 1964. S. 448).
Romulus, der mythische Gründer Roms, sowie das Hoheitszeichen S.P.Q.R., das von den Legionen des römischen Reiches auf ihren Standarten geführt wurde, gehören zur Darstellungstradition der Personifikation des siegreichen Rom (Roma Victrix), wie sie etwa in Cesare Ripas „Iconologia“ kodifiziert wurde (Siehe Abb. 3: Roma-Relief, Ara Pacis Augustae, 13 v. Chr., Rom).
Die Attribute können jedoch je nach Kontext variieren. Oft wurde die Standarddarstellung der Roma mit Attributen von Tugenden und heidnischen Göttern verbunden, um ihre Aussage dem gewünschten Kontext anzupassen. Dabei konnte ihre Rolle als Krieger oder als Mutter, die die Fruchtbarkeit Roms symbolisiert, hervorgehoben werden (Vgl. Mellor, Roland: The Worship of the Goddess Roma in the Greek World. Göttingen 1975, S. 200).
Auch geschlechtlich ambige Symbole lassen sich in der Radierung finden. Das markanteste Beispiel ist wohl die entblößte Brust, die auf eine Verbindung zur Amazonen-Ikonographie schließen lässt. Zudem lassen sich Attribute griechischer Göttinnen finden, die Charakterzüge beider Geschlechter in sich vereinen, wie Athenas Helm oder Köcher und Pfeile der Jagdgöttin Diana (Vgl. Malke, Lutz S.: Weibmann und Mannweib in der Kunst der Renaissance. In: Prinz, Ursula, Neuer Berliner Kunstverein(Hrsg.): Androgyn. Sehnsucht nach Vollkommenheit. Kat. Ausst. Berlin 1987, S. 33-57, hier S. 33-35).
Die Sphinx, Trägerin des Helmbuschs, ist ein Attribut der Athena (Vgl. Demisch 1977, S. 92), die selbst als eine doppeldeutige, wenn auch nicht als hermaphroditische Gottheit verstanden wurde.
Sie steht gleichermaßen für das weibliche Prinzip mit ihrem äußeren Erscheinungsbild sowie ihren beschützenden und erhaltenden Eigenschaften, wie auch für das männliche Prinzip, da sie auch eine kriegerische und zerstörerische Gottheit sein kann. Je nach Kontext werden in den bildenden Künsten entweder ihre weiblichen oder männlichen Aspekte betont (Vgl. Malke 1987, S. 34-35). Die zerstreut umherliegenden Köcher und Bögen können ein Attribut für die Jagdgöttin Diana sein. Ebenso wie Athena weist auch sie sowohl männliche als auch weibliche Charakteristika auf, ist doch die Jagd die Domäne des Mannes.
Ein weiteres Merkmal, das auf Androgynie hinweist, ist die entblößte Brust, die auf die Darstellungstradition der Amazonen zurückgeht. Den Legenden nach waren Amazonen kriegerische Frauen, die nicht nur mit Schwert und Speer, sondern auch mit Pfeil und Bogen kämpften. Um diese Waffe gezielter einsetzen zu können, schnitten sie sich die rechte Brust ab. Aus ästhetischen Gründen wurde dieser Aspekt jedoch nur selten in die darstellenden Künste übernommen. Stattdessen wurden sie mit einer verhüllten und einer entblößten Brust dargestellt. Wie im Falle der Göttinnen Athena und Diana ist auch die Amazone eine Figur, die weibliche und männliche Attribute in sich vereinigt.
Im Katalog des British Museum wird Hopfers „Roma“ als männlich identifiziert. Romas Körper wirkt zwar sehr männlich, doch verweist das Original auf eine weibliche Figur. Zum einen ist die weibliche Brust enthüllt und deutlich zu sehen. Zum anderen wirkt ihr Gesicht sanft und weich, vor allem wenn man es mit dem eindeutig männlichen Gesicht auf dem Visier vergleicht. Diese Darstellung erinnert in gewisser Weise an Hermaphroditen bei den Alchemisten, bei denen die Darstellung verschiedengeschlechtlicher Köpfe direkt nebeneinander geschieht.
In guten Zeiten wird Roma als „Roma Triumphans“ (triumphierendes Rom) oder als „Roma caput mundi“ (Oberhaupt der Welt) dargestellt − in schlechten Zeiten hingegen als Bittstellerin oder Trauende. Diese Darstellungen häuften sich ab 1309, als der Sitz des Papsttums nach Avignon verlagert wurde; Roma wird als eine von den Päpsten verlassene Witwe stilisiert. Dabei erweckte das Bild der Witwe beim Betrachter nicht nur Mitleid, sondern auch Abscheu.
Witwen wurden als die sexuellen Grenzen überschreitende Geschöpfe wahrgenommen, deren gesteigerte weibliche Gelüste nur durch die Gegenwart von Männern gezügelt werden konnten (Gessert 2015, S. 111-112). Auch konnte Romas Darstellung durch das Bild einer alten Frau erfolgen bis hin zur (geschlechtslosen) Leiche. Die Stadt wurde ihrer alten Größe beraubt und die Ausgrabungen, die auf der Suche nach antiken Kunstwerken stattfanden, ließen nur ein Skelett von ihr übrig. Das Geschlecht der Personifikation ist genauso wenig auszumachen wie die Rolle der Stadt.
Während die Römer sich der konträren Attribute Romas bedienten, um ein Zusammenspiel religiöser und kultureller Assoziationen zu konzipieren, bedienten sich Künstler oft in geschlechtsspezifischer Hinsicht der Attribute. Das begünstigte und erzeugte unterschiedliche Interpretationen des Geschlechts Romas.
Das Vorbild für Hopfers „Roma“ ist das gleichnamige Werk von Meister IB mit dem Vogel, der mit bürgerlichem Namen wahrscheinlich Giovanni Battista Palumba hieß. In beiden Fällen ist das Geschlecht der Personifikation nicht deutlich auszumachen. Zwar ist Romas Körper muskulös und erscheint auf den ersten Blick männlich, doch trägt sie das Gewand einer Amazone und ist umgeben von Attributen weiblicher und männlicher Götter (Vgl. Gessert 2015, S. 113-123). Sie kann daher als androgyne Personifikation beschrieben werden.
Der Begriff „androgyn“ kommt aus dem Altgriechischen und setzt sich zusammen aus den Wörtern „andros“ für Mann und „gynä“ für Frau. Damit gemeint ist „das Männliche und Weibliche vereinigend“. Androgynie wird in der Literatur auch oft als das dritte Geschlecht bezeichnet. Der Begriff Hermaphroditismus vereint die Namen des griechischen Gottes Hermes und der Liebesgöttin Aphrodite und bezeichnet heute in der Biologie doppelgeschlechtige Individuen (Vgl. Raehs 1987, S. 8-9). Ursula Prinz schreibt im Ausstellungskatalog zu „Androgyn – Sehnsucht nach Vollkommenheit“ zur Komplexität des Begriffs des Androgynen Folgendes:
„Es ist manchmal nicht leicht, die verschiedenen Sehweisen des Androgyn voneinander zu unterscheiden und zu verstehen. Das liegt vor allem an der Gleichsetzung des Begriffes mit dem des Hermaphroditen, der die konkrete Personifizierung des Androgyn ist, aber nur eine von vielen unterschiedlichen Erscheinungsformen und der in seiner Natur vorkommenden Ausformungen mit dem Androgyn mythischer Vorstellung nicht mehr viel gemein hat. Allerdings ist der mythische Androgyn als Idealvorstellung von Künstlern immer wieder in die Erscheinungsform des Hermaphroditen gehüllt worden.“ (Prinz 1987, S. 9.)
Die geschichtlichen Wurzeln führen weit in die Vergangenheit, wo androgyne Gestalten im Kontext des Ursprungs und des Göttlichen standen. Die Ägypter hatten Neith, Astarte war die bärtige Göttin aus Sumer, der Hinduismus glaubte an das Weltei, das das Weibliche und Männliche miteinander vereint und durch das Licht geteilt wird (Vgl. Raehs 1987, S. 20-26).
Platon schrieb im „Symposion“ aus dem Jahre 380 v. Chr. über das sogenannte dritte Geschlecht der Kugelmenschen. Diese waren sowohl weiblich als auch männlich und vereinten die Kräfte der Sonne, der Erde und des Mondes in sich, wobei die Sonne als männlich und die Erde als weiblich galt, der Mond hingegen als Vereinigung beider Geschlechter. Zeus fühlte sich von den Wesen bedroht und teilte sie mit einem Blitz. Doch die Kugelmenschen waren mit der Trennung nicht zufrieden und versuchten seitdem immerzu ihre fehlende Hälfte wiederzufinden, um sich erneut zu einem Ganzen vereinigen zu können. Damit erklärte Platon das erotische Begehren zwischen zwei Menschen (Vgl. Prinz 1987, S. 9).
Ovid berichtet vom Hermaphroditos, dem Sohn des Hermes und der Aphrodite. Er soll sehr schön gewesen sein, so dass sich die Nymphe Salmakis in ihn verliebte. Er jedoch erwiderte ihre Liebe nicht. In ihrer Verzweiflung flehte Salmakis die Götter an, sie sollten sie und Hermaphroditos ineinander verschmelzen lassen, damit sie für immer untrennbar miteinander verbunden wären. Die Götter erfüllten ihre Bitte. Hermaphroditos war aber sehr unglücklich mit dem Ausgang, und so ließ er eine Quelle mit Zauberkräften entstehen: Alle, die in dieser baden würden, sollten ebenso wie er zweigeschlechtlich werden.
In der Antike ist die androgyne Gestalt als Symbol für den Wunsch und die Sehnsucht des Menschen nach Entgrenzung, Harmonie, Unendlichkeit und Vollendung in der Einheit zu verstehen. Erst durch die Aufhebung der Geschlechter und/oder deren Vereinigung ist das volle Potenzial des Menschen greifbar. Das Konzept des Androgyn ist aber durch die verschiedenen mythologischen Ausprägungen zugleich auch als die Erklärung für den Ursprung zu sehen. Die Gleichsetzung der Geschlechter mit den Himmelskörpern (wie bei Plato) zeugt von einem universalen und gleichzeitig kosmologischen Verständnis des Androgynen, das die sexuelle und triebhafte Rolle der Geschlechter aufhebt. Der Ursprung wird zur Utopie, in der der befreite Mensch ein erweitertes Spektrum an Möglichkeiten erhält (Vgl. Gert Mattenklot: Bilderdienst. Frankfurt 1985, S. 97. zit. nach: Prinz 1987, S. 9).
Im Mittelalter findet sich die androgyne Figur im alchemistischen Kontext wieder. Zum einen symbolisierte die Allegorie des Androgyn die Ursubstanz der Materia Prima, mit der erst alchemistische Prozesse möglich waren. Zum anderen war der Androgyn aber auch Symbol für den Verwandlungsprozess selbst, in dessen Zuge man „männliche“ und „weibliche“ Metalle oder andere Naturstoffe − auf der Suche nach dem „Stein der Weisen“ − verband (Vgl. Biedermann, Hans: Das Androgyn-Symbol in der Alchemie. In: Prinz, Ursula, Neuer Berlin Kunstverein( Hrsg.): Androgyn. Sehnsucht nach Vollkommenheit. Kat. Ausst. Berlin 1987, S. 57–75, hier S. 62-63).
Aufgrund der besonderen Potenz, die aus der Vereinigung des Männlichen und des Weiblichen entstand, ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch weltliche Fürsten sich in einer ambigen Geschlechterrolle darstellen ließen, um ihre vorbildliche Stärke zu demonstrieren. Dies lässt sich sowohl für Herrscherinnen (wie Maria de‘ Medici) als auch für Herrscher nachweisen. So ließ sich etwa der französische König Franz I. im Gewand einer weiblichen Gottheit darstellen.
Ein Wesen, das beide Geschlechter in sich vereinigt, wurde bereits in Platons „Symposion“ aus dem Jahre 380 v. Chr. erwähnt. Die sogenannten Kugelmenschen sollen so mächtig gewesen sein, dass sie von den Göttern getrennt wurden. Jede weitere Religion, die von ähnlichen Wesen berichtet, erwähnt ihre Stärke (Vgl.: Prinz, Ursula, Neuer Berliner Kunstverein (Hrsg.): Androgyn. Sehnsucht nach Vollkommenheit. Berlin 1987. S. 9). So liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Androgynie als Verkörperung einer unbeschreiblichen und schöpferischen Kraft galt. Die Darstellung Romas als androgynes Wesen, im Verbund mit weiblichen und männlichen Tugenden, verkörpert die Stärke und das Ideal der Stadt. Hopfers „Roma“ bleibt jedoch den traditionellen Geschlechterrollen treu, indem der Künstler das Männliche aktiv in den Vordergrund stellt und die weibliche Symbolik passiv in den Hintergrund setzt.
Römische Silbermünze mit der Darstellung der Roma, ca. 60 n. Chr.
Ebenso wie Hieronymus Hopfers Darstellung der Roma ist die Personifikation auf einem Muskelpanzer sitzend dargestellt und mit einer Tunika bekleidet, die den Blick auf die (diesmal rechte) Brust zulässt. Ebenso hält sie ihre rechte Hand ausgestreckt, auf der sich eine Victoria-Figurine befindet, während ihre Linke nach dem Schwert greift.
Diese konventionelle Art der Darstellung wurde auch in Skulpturen, Reliefs und Zeichnungen oft übernommen (Vgl. Bühl 1995, S. 61).
Ara Pacis Augustae in Rom, Relief, Detail: Darstellung der Roma (Fragment und gezeichnete Ergänzung), 13.-9. Jh. v. Chr.
Die Darstellung der Roma auf dem Monument zu Ehren des Kaisers Augustus ist vielleicht die älteste Personifikation der Stadt. Sie ähnelt Hopfers „Roma“ z. B. durch den Helm, das Kriegsgut, auf dem „Roma“ sitzt, sowie durch ihren Griff nach dem Schwert mit ihrer linken Hand (Vgl. Gessert 2015, S. 117).
Es ist gut möglich, dass die Personifikation der Virtus (Der Held), also der soldatischen Tugend, ein Vorbild für Roma ist. Diese Tugend war den Männern vorbehalten, da nur diese den Beruf des Soldaten ergreifen konnten.
Statue einer Amazone („Verwundete Amazone“), ca. 450-415 v. Chr.
Amazonen waren der Legende nach ein Stamm kriegerischer Frauen. Sie kämpften nicht nur mit Schwert und Speer, sondern auch mit Pfeil und Bogen. Um diesen besser bedienen zu können, schnitten sie sich eine Brust ab. Aus ästhetischen Gründen wurde dieser körperliche Aspekt selten in der darstellenden Kunst übernommen. Stattdessen wurden Amazonen mit einer verhüllten und einer entblößten Brust dargestellt (Vgl. Gessert 2015, S. 117).
Mit ihrem weiblichen Äußeren und dem männlich-aggressiven Verhalten wurden sie ähnlich wie die Göttinnen Athena und Diana mit dem Androgynen assoziiert. Zudem dienten Amazonen und Athena als Vorbild für die Gestaltung Romas (vgl. ebd.).
„Varvakion-Statuette“, kleinformatige römische Kopie der Athena Parthenos des Phidias (Original: ca. 447 n. Chr.)
Diese antike Statue der Athena zeigt die Göttin aufrecht stehend, in eine Tunika gekleidet. Ähnlich wie bei Hopfer trägt auch sie einen Helm, dessen Helmbusch von einer Sphinx getragen wird; hier wird die Sphinx jedoch von zwei Pferden flankiert. Auch hebt Athena in ihrer rechten Hand die Statue einer Victoria hoch, während ihre linke Hand an einen Schild zu ihrer Seite greift.
Sie ist zugleich die Göttin des Friedens und des Krieges. In Friedenszeiten repräsentiert sie musische und künstlerische Eigenschaften, die weiblich konnotiert waren. Dagegen ist die Sphinx auf ihrem Helm Zeichen für den zerstörerischen Krieg, der männlichen Ambitionen entsprach. Durch Athenas Verknüpfung mit dem Mischwesen wird auch ihr doppeldeutiges Wesen als Friedens- und Kriegsgöttin versinnbildlicht (Vgl. Malke 1987, S. 33-36).
Meister IB mit dem Vogel (wahrsch. Giovanni Battista Palumba), Roma, 1500 – 1510
Hopfer war vor allem als Waffenätzer und Kopist bekannt (Vgl. Christof Metzger: Daniel Hopfer. Ein Augsburger Meister der Renaissance. Kat. Ausst. München 2010. S. 87). Hopfers Vorlage ist im Hintergrund detailreicher, die Linienführung ist feiner. Das Hauptmotiv der Roma ist dennoch das gleiche geblieben. Jedoch wirkt Palumbas Roma ernster. Ihre Mundwinkel sind streng nach unten gezogen. Ihr Blick ist unnachgiebig auf die Victoria-Statuette in ihrer Hand gerichtet. Kurzum: Sie wirkt stereotypisch männlicher als Hopfers Roma mit ihren sanften Zügen. Palumbas Darstellung orientiert sich dabei stark an antiken Vorbildern.
„Schlafender Hermaphrodit“, römische Kopie nach späthellenistischem Vorbild (Original: ca. 2. Jh. v. Chr.).
Die Marmorskulptur zeigt eine schlafende Person, die mit ihrem Kopf auf den Armen aufliegt und den Rücken zum Betrachter gewendet hat. Von der Vorderseite erscheint sie zunächst weiblich. Das zum Betrachter gewendete Gesicht wirkt weich und entspannt und wird von einer hochgesteckte Haartracht umrahmt. Einige der Locken haben sich losgelöst und fallen zart auf Stirn und Nacken. Der gedrehte Körper lässt die Seite einer kleinen gewölbten Brust erkennen, die Hüfte und das Gesäß wirken rundlich feminin. Von der anderen Seite jedoch wird das männliche Glied sichtbar. Die Verbindung der körperlichen Merkmale beider Geschlechter zeichnet den Schlafenden als Hermaphroditen aus. Dabei geht von der Figur eine erotische Wirkung aus, die der genauen Ausarbeitung sowie sinnlichen Pose des Schlafenden geschuldet ist (Vgl. Raehs 1987, S. 62-63). „In dieser Spätphase griechischer Kunst wurde das Doppelgeschlecht der Gestalt des Hermaphroditen als Steigerung von Erotik und Sexualität zu höchster Vollkommenheit empfunden.“ (Malke 1987, S. 48.)
Michael Maier, Symbola Aureae, 1617
Das Ziel der Alchemisten war es, den „Stein der Weisen“ herzustellen. Mit seiner Hilfe sollten der Legende nach alle Krankheiten zu besiegen sein und auch die Unsterblichkeit rückte mit ihm in greifbare Nähe. Zur seiner Herstellung musste man Metalle, die in „männlich“ und „weiblich“ unterschieden wurden, miteinander vereinen (Vgl. Biedermann 1987, S. 57–75). Die Figur weist sowohl männliche als auch weibliche Merkmale auf, die unvermittelt nebeneinanderstehen. Besonders fällt im Vergleich mit Hopfers „Roma“ die direkte Nachbarschaft der zwei Gesichter auf. In ähnlicher Weise hat Romas Helm ein maskulin wirkendes Visier, das im Kontrast zu ihren weichen Zügen steht und diese nochmals betont.
Plan von Rom mit Roma als altem Weib, In: Dittamondo: Fazio degli Uberti, 1447, f. 18r.
In der Stadtmauer eingeschlossen, hockt eine alte Frau. Sie ist in einen schwarzen Umhang mit Kapuze gekleidet. Ihre Haltung ist zusammengekauert, während sie in die Richtung zweier Männer schaut. Diese sind gut gekleidet mit teuren Stoffen. Die Männer schauen verwundert über den Rand der Mauer in die Stadt hinein.
Hier wird Roma zu einem alten Weib reduziert, dem nichts anderes übrig bleibt, als in den Ruinen antiker Monumente auf ihren Tod oder ihre Wiederherstellung zu warten.
Peter Paul Rubens, Maria de’ Medici als Athena, 1622 – 1625
Peter Paul Rubens verbindet das Porträt Maria de’ Medicis mit der Darstellung der Athena und einer Amazone. Ebenso wie Roma wird sie mit Kriegsgut, entblößter Brust und einer Statuette der Victoria ausgestattet.
Athena, aber auch Zeus, Apollo oder Diana galten in ihrem Wesen als ambige Gestalten. Diese Wahrnehmung verdankten sie ihren vielfältigen Charakterzügen. So war Athena in Friedenszeiten für die Künste zuständig, in kriegerischen Zeiten die Göttin des Kampfes. Je nach Kontext wurden entweder ihre weiblichen oder männlichen Aspekte betont (Vgl. Malke 1987, S. 33-35).
Durch die Verbindung von Athena mit Maria de’ Medici hebt Rubens diese in eine himmlische Sphäre empor. Die sowohl weiblichen als auch männlichen Tugenden der Göttin werden auf die weltliche Herrscherin übertragen und finden in ihr ihren Höhepunkt.
Anonym, Franz I. allegorisch verkleidet, o. J.
Auch männliche Herrscher scheuten sich nicht davor, sich im Gewand weiblicher Gottheiten abbilden zu lassen. Franz I. von Frankreich ist mit den Attributen der Götter Mars, Minerva (grch. Athena), Diana, Merkur und Amor ausgestattet. Zu seinen Füßen befindet sich eine Inschrift, die Folgendes besagt:
François ist ein wütender Mars im Krieg. Im Frieden Minerva und Diana auf der Jagd.
Er verfügt über eine umfangreiche Diskussionskunst wie Merkur, Voll der Grazie wie ein wahrer Amor. Das glückliche Frankreich habe einen König zu ehren, der die Natur übertrifft, da er die Tugenden Minervas, Dianas, Amors und Merkurs ineinander gleichermaßen vereinigt.
Hier findet die Vereinigung verschiedengeschlechtlicher Gottheiten auf eine reelle Person Anwendung. Durch den Verbund aus weiblichen und männlichen Tugenden wird die Natur übertroffen, ein vollkommener Herrscher beziehungsweise Mensch ist das Resultat.
Biedermann, Hans: Das Androgyn-Symbol in der Alchemie. In: Prinz, Ursula, Neuer Berlin Kunstverein( Hrsg.): Androgyn. Sehnsucht nach Vollkommenheit. Kat. Ausst. Berlin 1987, S. 57–75.
Bühl, Gudrun: Constantinopolis und Roma. Städtepersonifikationen der Spätantike. Kilchberg, Zürich 1995.
Gessert, Genevieve S.: A giran corrupt body. In: Receptions of Antiquity. Constructions of Gender in European Art. 1300-1600. Leiden 2015, S.98-127.
Grant, Michael: Mythen der Griechen und Römer. Zürich 1964.
Malke, Lutz S.: Weibmann und Mannweib in der Kunst der Renaissance. In: Prinz, Ursula, Neuer Berliner Kunstverein(Hrsg.): Androgyn. Sehnsucht nach Vollkommenheit. Kat. Ausst. Berlin 1987, S. 33-57.
Mellor, Roland: The Worship of the Goddess Roma in the Greek World. (=Hypomnemata 42). Göttingen 1975.
Metzger, Christof: Daniel Hopfer. Ein Augsburger Meister der Renaissance. Kat. Ausst. München 2010.
Prinz, Ursula, Neuer Berliner Kunstverein (Hrsg.): Androgyn. Sehnsucht nach Vollkommenheit. Kat. Ausst. Berlin 1987.
Raehs, Andrea: Zur Ikonographie des Hermaphroditen. Begriff und Problem von Hermaphroditismus und Androgynie in der Kunst. Phil. Diss. Aachen 1987.
Autorin: Malgorzata Galazka